Metamorphosis

Cyberpunk-Roman
(2019) 

„Eigentlich braucht man nichts sagen, wer die ersten drei Teile mochte wird auch diesen lieben!“ – Rezensent

Band Vier von Terranis

4,5 Sterne Bewertung 4,6 von 5

Devon und sein Team entkommen im letzten Moment dem brutalen Terranisagenten Pax, bezahlen bei ihrer Flucht aus der Kriegshölle von Kalkutta jedoch einen hohen Preis. In ihrer ausweglosen Lage suchen sie Schutz bei Walkers zwielichtiger Schwester, die jedoch ihre eigenen Pläne verfolgt …

Während Nyx, infiziert mit einer parasitären künstlichen Intelligenz, um die Vorherrschaft über ihren Verstand kämpft, sucht der Rest des Teams verbissen nach dem mysteriösen Mastermind hinter Terranis. Eine geheime Forschungsstation, bei deren Infiltrierung sie die letzten Grenzen der Moral hinter sich lassen, bringt sie auf die Spur eines geplanten Attentats auf den Weltrat.

Um das zu verhindern, ist Devon gezwungen das größte aller Opfer zu bringen. Doch die Zeit verrinnt erbarmungslos, und Pax und seine Agenten bereiten den finalen Schlag gegen das Team vor.

Terranis – Der gesamte Zyklus

Christian Paul Autor Cyberpunk Roman Terranis 1 Buchcover Incubatio 200x309
Christian Paul Autor Cyberpunk Roman Terranis 2 Buchcover Expansum 200x309
Christian Paul Autor Cyberpunk Roman Terranis 3 Buchcover Mutatio 200x309
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Kapitel 1 (Gesamter Text)

1 – Überzeugungen

Kalkutta – Indien

Der Panzerwagen rollte knirschend durch die Hölle Kalkuttas. Brennende Wracks warfen ihr bedrohliches Leuchten auf die düstere Kulisse des Krieges, der unentwegt in den Straßen der Stadt tobte. Schatten zuckten über zerbombte Fassaden und zerstörtes Kriegsgerät. Tote Rebellen und Soldaten des Ratsheeres lagen Seite an Seite in den Straßengräben, die Waffen immer noch fest umklammert. Plünderer und verstreute Einheiten beider Parteien flohen wie nachtscheue Tiere vor den flackernden Scheinwerfern des Wagens.
Der Motor stotterte und die Überreste des zerfetzten Hecks klapperten bei der kleinsten Bodenunebenheit. Niemand sprach. Phobos’ Tod hing wie ein schalldichter Vorhang zwischen ihnen. Nur Akra, der mit ihm eine Vaterfigur verloren hatte, vergoss stille Tränen.
»Ist er tot?« Rees Stimme knisterte wie eine schwache Übertragung in Nyx Kopf.
Jetzt, da die Wirkung des Adrenalins allmählich nachließ, drängte sich die künstliche Intelligenz wieder in den Vordergrund. Nyx spürte die Maschinenpräsenz in ihrem Kopf wie einen Fremdkörper, dessen Ecken und Kanten an ihrem Verstand kratzten. Sie schwieg.
Der Mann, der ihr die KI eingepflanzt hatte, lag zu ihren Füßen auf dem kalten Kunststoffboden des gepanzerten Wagens. Für ihn gab es keinen Neustart, keine Reserveleben und keinen Speicherpunkt, an dem er wie in einer Zone wiederauferstehen würde. Widersprüchliche Emotionen stiegen in ihr hoch, als ihr Blick die Umrisse seiner Leiche nachzeichnete. Sie war hin- und hergerissen zwischen Dankbarkeit und Enttäuschung, Bewunderung und Abscheu, Trauer und Zorn.
Jetzt, da er mit diesem farblosen, eingefallenen Gesicht und dem zerfetzten Bein vor ihr lag, erkannte sie, dass er sein gesamtes Leben einen Kampf im Verborgenen geführt und dabei die Bedeutung von Vertrauen vergessen hatte. Erschrocken stellte Nyx fest, dass sie einander ähnlicher gewesen waren, als sie es sich eingestehen hatte wollen. Je länger sie ihn ansah, desto mehr Parallelen sah sie.
In diesem Durcheinander aus Gefühlen und Überlegungen traf sie die Gewissheit, dass er ihr sein größtes Werk hinterlassen hatte: Ree. Nyx trug seine Schöpfung in sich und das machte ihr Angst.
Sie blickte auf und sah in verwundete, trauernde, erschöpfte Gesichter. Ihre Blicke wichen einander aus. Sethis Gesichtszüge wirkten hinter dem Lenkrad wie gemeißelt. Sie fuhr einfach weiter geradeaus.
Nyx wollte diese schreckliche Stille beenden, fand aber nicht die Kraft dazu. Sie wandte sich ab und sah aus dem Fenster. Soweit das Auge reichte, sah sie nur Zerstörung und Tod. Sie bezweifelte, dass Gerechtigkeit so aussah. Kalkutta hatte sich zu einer von vielen Bühnen eines verborgenen Machtkampfes verwandelt. Der Krieg war ein vom Tribunal unter der Regie von Terranis produziertes Schauspiel. Sie opferten bereitwillig Millionen Unschuldige in einem perfiden Spiel aus Intrigen und Täuschung, bei dem alle glaubten, für eine gute Sache zu kämpfen, auf der richtigen Seite zu stehen. Doch dabei handelten sie alle nur nach dem Drehbuch.
Sethi brachte den Wagen mit knirschenden Reifen zum Stehen. Ihre Hände krallten sich um das Lenkrad. »Und was jetzt?«
Der Motor ratterte seinen sterbenden Takt in die folgende Stille. Alle Blicke richteten sich auf Devon, der schweigend dasaß und sein schwer angeschlagenes Gesicht von jeglicher Regung befreit hatte.
»Wir sollten zur Vulture zurückkehren und dieses Land so schnell wie möglich verlassen.«, sagte er ruhig.
Akra räusperte sich und schrumpfte in seinem Sitz zusammen.
»Was ist los?«, fragte Devon.
»Ich fürchte, euer Gleiter ist nicht mehr da.«
»Was?«, entfuhr es Walker.
»Er will damit sagen, dass euer Gleiter weg ist.«, sagte Nimali mit einem spitzen Unterton in ihrer Stimme. »Unsere Leute haben ihn.«
»Scheiße, könntet ihr uns bitte erklären, was das zu bedeuten hat?«, entgegnete Walker gereizt.
»Nachdem ihr uns laufen gelassen habt und mit Akra verschwunden seid, haben wir uns den Gleiter gekrallt.« Nimali warf Walker ein siegessicheres Lächeln zu. »Wir haben ihn zum General gebracht. Er wird in diesem Augenblick für den nächsten Kampf einsatzbereit gemacht.«
»Welcher General?«, fragte Sethi.
»General Kumara Tapesh.«, antwortete Akra. »Er ist Anführer der Rebellion in Kalkutta. Angeblich war er ein General der indischen Armee, bevor sie wie alle nationalen Streitkräfte ausgehungert und größtenteils durch Einheiten des Ratsheers oder Söldnertruppen ersetzt worden war.«
»Ja, dank seiner Führung konnten wir diese Scheiß-Imperialisten empfindlich schlagen.« Nimali reckte ihre spitze Nase stolz hoch. »Er hat die Rebellion organisiert und uns zu einer Armee geformt.«
»Okay, nochmal von vorne.« Walker schüttelte den Kopf. »Eure Leute haben unseren Gleiter? Wie konnte das denn geschehen? Ich dachte …«
»Er wäre dort sicher?« Nimali machte ein mitleidiges Gesicht und grinste überlegen. »Phobos hat euch reingelegt.«
Akra warf Nimali einen zurechtweisenden Blick zu und hob dann beschwichtigend die Hände. »Es war seine Idee. Er hat uns die Zugangscodes für den Gleiter gegeben. Wir mussten dem General schließlich eine Geschichte auftischen, sonst hätte er uns niemals gehen lassen.«
»Toll!«, brummte Walker, doch seine Stimme hatte seit dem letzten Kampf deutlich an Schärfe verloren. »Wir sitzen also in diesem Drecksloch fest!«
»Was habt ihr ihm erzählt?«, fragte Devon ruhig.
Akra seufzte. »Offiziell gingen wir einem Hinweis nach, wonach irgendwo in der Stadt der beschädigte Gleiter eines Ghostteams runtergegangen sein sollte. Ich schlug vor, uns die Sache anzusehen. Ein solcher Fund sei zu wichtig, als dass wir den Hinweis ignorieren könnten.«
»Und der General hat den Einsatz genehmigt?«
»Er war misstrauisch, aber da die nächste Offensive gerade erst in Planung war, hat er zugestimmt.«
»Und weiter?«, fragte Devon.
»Ich weiß nicht, ich war ja nicht dabei, als sie zum General gegangen sind.« Kurz flackerte Akras Zorn auf, ebbte aber sofort wieder ab »Der Plan war, ihm zu erklären, dass wir die Spuren des Ghostteams verfolgt, sie aber in der Stadt verloren hätten. Dafür wollten wir ihm den Gleiter als Beweis bringen. Phobos hätte bekommen, was er wollte und wir wären auch fein raus gewesen.«
»Er hat wohl nicht damit gerechnet, dass wir ihn noch einmal brauchen würden.«, sagte Sethi resigniert.
»Wie auch immer.«, sagte Devon. »Wir brauchen einen Gleiter.«
»Ich nehme nicht an, dass die uns unser Schätzchen wiedergeben.«, gab Walker zu bedenken.
Nimali stieß ein knappes, bellendes Lachen aus. »Vergesst es. Der Gleiter gehört jetzt uns. Wir brauchen ihn für den nächsten Angriff.«
Devon sah Akra an. »Wo ist die Vulture jetzt?«
»Wahrscheinlich beim Kommandoposten, nördlich von hier.«
»Akra!« Nimali warf ihrem Kameraden einen wütenden Seitenblick zu.
Er ignorierte sie. »Ein Großteil der verbliebenen Truppen des Ratsheeres, des indischen Militärs und der lokalen Polizei haben sich nördlich des Stadtzentrums im Vorort Dum Dum verschanzt. Sie nutzen den Flughafen als Basis und fliegen regelmäßig Luftangriffe auf unsere Stellungen. Seit Tagen halten sie sich dort hartnäckig.«
»Vielleicht finden wir einen anderen Gleiter.«, sagte Nyx, ohne selbst davon überzeugt zu sein.
»Pah.«, entkam es Nimali. »Glaubst du, hier stünden Gleiter auf jedem Hausdach oder was? Ihr seid hier in Kalkutta. Hier sind Gleiter eine Rarität. Entweder die Armee hat sie sich unter den Nagel gerissen oder wir.«
»Ich beginne sie zu hassen.«, sagte Walker und diesmal lag kein Humor in seiner Stimme. Sein Blick traf Nimali hart, aber sie hielt ihm stand.
»Keine Sorge, ich kann euch auch nicht leiden.«
»Ist uns nicht entgangen.«
»Haltet die Klappe!«, ging Devon dazwischen. Er sah Akra an. »Kann man mit dem General vernünftig sprechen?«
»Nicht in diesem Fall.« Akra schüttelte den Kopf. »Er wird euch die Geschichte nicht abkaufen. Ich glaube sie ja selbst kaum.«
»Außerdem brauchen wir jede Lufteinheit, die wir kriegen können.«, fügte Nimali schnell hinzu. Sie schien zu ahnen, wohin dieses Gespräch führte. »Die Armee besetzt den Flughafen und nutzt ihre Luftüberlegenheit aus. Wir haben nur wenige Gleiter und diese sollen während eines letzten großangelegten Angriffs gegen die Stellungen der Imperialisten eingesetzt werden. Der General wird euch die Vulture nie überlassen.«
»Dann müssen wir sie stehlen.«, sagte Nor.
»Seid ihr verrückt geworden?« Zorn explodierte in Nimalis Augen. »Das ist Verrat an unserer Sache. Bei so etwas mache ich nicht mit.«
»Wir müssen dieses Land so schnell wie möglich verlassen.«, sagte Devon. »Es ist äußerst wichtig.«
»Ach und unser Kampf ist unwichtig oder wie? Ich habe euretwegen schon genug Probleme am Hals.«
»Euer Kampf ist zwecklos.« Nor fixierte die junge Inderin mit seinem eisigen Blick. »Es wird sich nichts ändern, außer der Zahl der Toten, die ihr begraben müsst.«
»Was weißt du schon davon?«
Nor sah sie wie ein naives Kind an, das die Welt nur durch die Scheibe eines Monitors kannte.
»Nimali.« Akra legte ihr eine Hand auf die Schulter und riss sie von Nors eisgrauen Augen weg. »Diese Leute können uns helfen.«
»Wie sollen die uns helfen?«, sie zeigte mit einer Geste der Verachtung auf die Gruppe.
»Das ist eine lange Geschichte. Ich werde sie dir später erzählen, aber jetzt musst du mir vertrauen.«
»Ich habe dir schon einmal vertraut und wurde dafür von denen niedergeschossen.«
Akra hielt dem Zorn in ihren Augen stand und seufzte. »Wieso bist du dann gekommen, wenn du mir nicht mehr vertraust?«
»Einen Kameraden lässt man nicht im Stich.«
Sie gab sich taff, doch Nyx hatte das Gefühl, dass da mehr war. Der Satz wirkte aufgezeichnet, als hätte sie nur darauf gewartet ihn abspielen zu können. Es folgte eine Unterhaltung auf Indisch, die Nyx nicht verstand. Neben ihr stöhnte Walker leise. Er wollte es vor den anderen verbergen, doch ihr entging es nicht. Sie warf ihm einen sorgenvollen Blick zu. Als er das sah, verzog er das Gesicht zu seinem patentierten Lächeln. »Alles in Ordnung, Kleine?«,
»Dasselbe wollte ich dich gerade fragen.«
»Keine Sorge, ist nur ein leichter Blechschaden.«
Devons künstlichen Sinnen entging das Gespräch nicht. Er tastete Walker mit einem kritischen Blick ab. »Was ist los, Garreth?«
»Scheiße, ich sag‘ doch, dass es nur ein paar Blechschäden sind.«
»Garreth!« Devons Stimme war hart wie Stahl.
»Sind nur ein paar Organe ausgefallen, nichts weiter.«, brummte Walker vor sich hin. »Das wird schon wieder.«
»Ach, wenn es weiter nichts ist.«, spottete Devon und beugte sich dann vor. »Welche Organe?«
»Eineinhalb Lungenflügel, Nieren, Leber, ich glaube, die Verdauung ist auch hinüber. Ansonsten läuft alles prima.«
Nyx hielt den Atem an. Einen Augenblick lang hoffte sie, das wäre wieder nur einer seiner schlechten Scherze. Als sie ihn jedoch ansah, wurde ihr klar, dass es keinesfalls komisch gemeint war.
Devon fuhr sich durch den dichten Bart, wobei er Walker nachdenklich besah. »Hältst du durch?«
Walker grinste schief. »Nur wenn ich bald etwas Hochprozentiges in die Finger bekomme.«
Devon hielt mit dem ehemaligen Detective den Zeigefinger unter die Nase. »Wehe du machst schlapp. Ich verbiete es!«
»Jawohl, Sir!« Walker salutierte mit dem rechten Arm. Ein Finger war zerfetzt, ein anderer zuckte unkontrolliert. Nyx kam bei seinem Anblick nur ein Begriff in den Sinn: Totalschaden.
»Gut so.« Devon nickte und kramte ein freundschaftliches Lächeln aus seinen letzten Reserven hervor. »Gestorben wird nur mit meiner Erlaubnis.« Er wandte sich an die Rebellen. »Könnt ihr uns zur Vulture bringen?«
»Ihr wollt den Gleiter doch nicht wirklich stehlen?«, fragte Nimali.
»Es ist kein Stehlen, wenn er bereits uns gehört.«, warf Walker ein.
»Wir haben keine andere Wahl.«, sagte Devon.
Nimali warf einen vernichtenden Blick in die Runde. »Akra, du hast behauptet, sie wären auf unserer Seite.«
»Das sind sie auch.«
»Aber sie wollen uns den Gleiter wegnehmen. Wir hatten eine Abmachung mit Phobos.« Nimali gestikulierte zornig. Ihre Stimme wurde immer schriller. »Wir brauchen für den Angriff jede Unterstützung, die wir kriegen können. Es geht hier um das Leben unserer Kameraden.«
Akra zögerte.
Ein Ausdruck von Enttäuschung huschte über Nimalis Gesicht. »Wenn sie wirklich auf unserer Seite stehen, sollten sie uns bei dem Angriff unterstützen.«
»Wir haben keine Zeit für euren belanglosen Konflikt.«, sagte Nor so kalt, dass die Luft zwischen ihm und Nimali praktisch gefror.
Die Rebellin sog die Luft scharf ein. »Belangloser Konflikt?«
»Nimali, bitte.« Akra berührte ihre Schulter. »Hier geht es um mehr.«
Devon beobachtete den Streit aufmerksam und drehte Nyx dann beiläufig den Kopf zu. »Gib mir das Medipack.«
Sie verstand den Grund zwar nicht, gab ihm aber das Paket. Er nahm es rasch an sich, belud den Injektor und kletterte nach vorne. Dann ging alles furchtbar schnell. Mitten im Streit packte Devon Nimali am Arm und jagte ihr eine Injektion in den Körper. Sie stieß einen indischen Fluch aus, wich zurück und schlug um sich, doch ihre Bewegungen wurden rasch schwächer. Mit anklagendem Blick brach sie in Akras Armen zusammen.
»Was hast du getan?«, fragte er entsetzt und hielt seine Kameradin wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe fest. Eine Sekunde später hatte er den kalten Lauf der Wolve an der Stirn.
Devon kam mit dem Gesicht nahe an ihn heran. »Sie wird ihre Meinung nicht ändern. Wir brauchen die Vulture und du wirst uns dabei helfen, sie zu bekommen. Verstanden?«
Akras Augen zuckten zwischen dem Lauf und Devon hin und her. »Ihr erwartet von mir, dass ich meine eigenen Leute verrate.« Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln. »Das ist nicht fair.«
»Die Realität ist nicht fair!«, entfuhr es Devon. Einen Augenblick später hatte er sich wieder unter Kontrolle. Er senkte die Wolve und wählte einen beschwörenden Ton. »Wenn du ernsthaft etwas verändern willst, musst du uns helfen. Phobos soll nicht umsonst gestorben sein.«
Akra sah seine bewusstlose Kameradin an. In ihm tobte ein Krieg wie auf den Straßen der Stadt. Nyx konnte nur erahnen, wie schwer ihm die Entscheidung fiel, die doch nicht seine eigene war – Devon würde ihn wenn nötig zwingen.
Akra warf Phobos’ Leiche einen Blick zu, dann wieder Nimali. In seinen großen, tränenden Augen erkannte Nyx, wie wichtig ihm die Frau war.
»Nein, ich werde meine Kameraden nicht im Stich lassen!« Er schüttelte entschlossen den Kopf. »Ich mache nicht denselben Fehler wie Phobos und fliehe wie ein Feigling, um mich mein restliches Leben lang zu verstecken.«
Nyx beobachtete besorgt, wie sich die Finsternis hinter Devons Augen rührte, eine gefährliche Bestie, bereit auszubrechen. Der Anblick machte ihr Angst. Für einen Moment schickte er seinen Blick nach draußen, als ob er ihn an der Dunkelheit der Nacht kühlen wollte.
»Ihr habt doch gesehen, wie es um Kalkutta steht, welche Zustände im gesamten Land herrschen.«, rief Akra. »Es mag ja sein, dass dieser ganze Krieg nur ein Konstrukt einiger Größenwahnsinniger ist, aber deswegen ist er nicht weniger real oder notwendig. Ich bin in diesem Elend aufgewachsen, sehe es jeden Tag, sehe wie Kinder an harmlosen Krankheiten sterben oder einfach verhungern, während andere Slimpills nehmen, damit sie nicht fett werden von all dem Überfluss.«
Devon verbarg sein Gesicht vor Akras Blicken. Die anderen schwiegen. Sie überließen die Entscheidung ihrem Anführer, dem ehemaligen Major.
»Dieses Land ist krank, die ganze Welt ist krank. Aber auch wenn Tribunal und Terranis die Auslöser sind, so kämpfen wir hier doch wenigstens gegen die Symptome dieser Krankheit an, statt nur zuzusehen, wie sie uns umbringt.« Akra sah Nimali gleich zärtlich an wie seine Finger über ihre kurzen Haare strichen. Er blickte auf. »Ich weiß nicht viel von euch, aber ich weiß, dass ihr auf unserer Seite steht, auf der richtigen Seite. Helft uns bei diesem Angriff und Kalkutta gehört den Rebellen. Der General wird sich sicher dankbar zeigen.«
Eine unnatürliche Stille folgte seinen Worten. Nyx wollte etwas sagen, als Devons Blick zurück in den Wagen fand. Die Finsternis hatte sich verzogen. Er sah Akra in die Augen. »Du hast Recht. Wir werden euch unterstützen.«
Mit dieser Antwort hatte niemand gerechnet, nicht einmal Akra.
»Das ist doch wohl nicht dein Ernst.«, sagte Walker.
Nor verzog das Gesicht, als hätte er etwas Verdorbenes gegessen.
»Es ist das Richtige.«, sagte Devon und sah seine Kameraden der Reihe nach an. »Vertraut mir.«

Kapitel 2 (Gesamter Text)

2 – für die Rebellion

Kalkutta – Indien

Nach einer Stunde Fahrt erreichten sie das Hauptlager der Rebellen. Akra saß hinter dem Lenkrad, Nimali hing bewusstlos im Beifahrersitz. Das restliche Team befand sich im hinteren Teil des Panzerwagens. Ihre Hände waren lose gefesselt, damit sie wie Gefangene wirkten. Der Plan sah vor, sie auf diese Weise sicher zum General zu bringen und ihm dann alles zu erklären. Akra befürchtete, dass sie das Lager ohne diese Maßnahme gar nicht erst betreten könnten. Für die meisten indischen Rebellen gehörten Fremde automatisch zum Feind. Da Kriegszustand herrschte, waren alle nervös und Vertrauen ein Fremdwort.
Zwei bewaffnete Aufständische stellten sich ihnen in den Weg und hielten den Wagen mit ausgestreckten Armen an.
»Es geht los.«, sagte Akra, ohne sich umzudrehen. »Verhaltet euch ruhig und ich bring uns da sicher durch.«
Er grüßte seine Kameraden lässig, doch die hatten längst ein kritisches Auge auf den demolierten Panzerwagen geworfen. Sie leuchteten erst ihm ins Gesicht, dann Nimali. Sie stellten Fragen, die Nyx nicht verstand. Akra antwortete und die Unterhaltung wurde schnell hektisch. Sie umrundeten den Wagen und warfen einen Blick auf die vermeintlichen Gefangenen. Akra gestikulierte verärgert, erklärte ihnen die Lage, doch das Gespräch schien sich nicht in seinem Interesse zu entwickeln. Nyx beobachtete die Szene mit wachsender Anspannung.
Nyx konnte anhand der Gesten der Rebellen erkennen, dass sie sehen wollten, wer unter der Decke lag. Akra wehrte sich lautstark dagegen, musste aber schließlich nachgeben. Mit versteinertem Gesichtsausdruck hob er die staubige Decke an und präsentierte den Leichnam von Phobos. Er sah sie herausfordernd an und deckte seinen Ersatzvater dann wieder zu. Die Rebellen richteten ihre Taschenlampen auf jedes Teammitglied und stellten weitere Fragen. Akra beantwortete sie mit zunehmender Gereiztheit. Das Gespräch entwickelte sich zu einem Streit. In den Augen der Rebellen brannte der kollektive Hass einer Kriegspartei. Sie begannen nervös mit ihren Waffen herumzufuchteln.
Aus dem Augenwinkel sah Nyx, wie sich Devons Haltung veränderte. Sein Blick lud sich mit Entschlossenheit auf und seine Muskeln spannten sich. Er zerrte an den losen Fesseln und war kurz davor, sich auf die Rebellen zu stürzen. Akra redete wütend auf sie ein und konnte sie schließlich beruhigen und ihnen am Ende sogar ein Lächeln abringen. Sie verabschiedeten sich und bedeuteten ihnen, weiterzufahren. Erst nachdem Akra wieder eingestiegen war, entspannte sich Devon.
»Was war das Problem?«
Akra startete den Wagen. »Es war nichts.«
»Das klang aber nicht wie nichts.«
»Sie sind nur angespannt.« Akra winkte seinen Kameraden zum Abschied. »Wie alle hier. Die große Offensive steht kurz bevor und alle fürchten sich vor Verrätern oder Spionen. Sie wollten keine gefährlichen Gefangenen in die Nähe des Generals lassen.«
»Und was hast du ihnen gesagt?«
»Dass ihr ein Ghostteam wärt und wichtige Informationen für Tapesh hättet.« Akra warf einen Blick in den Rückspiegel. »Ich habe ihnen zu verstehen gegeben, dass euer Wissen uns bei dem Angriff helfen würde.«
»Das war von Anfang an eine beschissene Idee.«, brummte Walker.
»Die Entscheidung ist getroffen.«, sagte Devon und unterband jedwede weitere Diskussion. »Wir verfahren nach Plan.«
Nyx wusste nicht, was sie von der Idee halten sollte, den Rebellen zu helfen. Aber irgendwie erschien es ihr richtig. Sie hatte lange genug im Schatten der Wohlhabenden gelebt, um zu wissen, dass es nur zwei Extreme gab: Armut und Reichtum. Dazwischen existierte bloß noch die Illusion einer Mittelschicht. Vielleicht war es wirklich an der Zeit für einen Umbruch, auch wenn er gewaltsam stattfinden musste.
Sie fuhren in das Hauptlager, das sich ein Stück weit außerhalb des Stadtzentrums befand. Es lag in einer weitläufigen Senke, die sich als ausgetrockneter See herausstellte. Tausende bewaffnete Frauen und Männer bevölkerten das Feldlager aus Zelten und behelfsmäßigen Unterkünften. Panzer und andere erbeutete Kriegsgeräte waren waffenstarrend über den Platz verteilt. Schwere Raketenanlagen hielten mit funkelnden Radaraugen nach feindlichen Gleitern Ausschau. Frauen und Männer saßen um Feuerstellen versammelt, unterhielten sich, aßen oder schliefen.
Die Rebellen waren verdächtig ruhig. Es schien, als hätten sie ihre Ängste, Schmerzen und Leiden abgestreift und ihren Schatten aufgebürdet, die im Schein der Flammen unruhig flackerten. Der Anblick erinnerte Nyx an ihr Maschinenbewusstsein. Womöglich mussten sich auch die Rebellen zweiteilen, um das tun zu können, was sie taten. Jeden Tag kämpften sie, töteten Landsleute und verloren Freunde in einem Konflikt, dessen Ausgang ungewiss war. Ständig lebten sie in der Gewissheit, es könnte ihr letzter Atemzug, ihre letzte Mahlzeit, ihr letztes Lachen gewesen sein. Vermutlich blieb ihnen nichts anderes übrig, als einen Teil ihres Selbst abzutrennen, um nicht verrückt zu werden. Gedankenverloren betrachtete Nyx die flackernden Schatten und wurde das Gefühl nicht los, sie würden anstelle der Rebellen vor Schmerz und Verzweiflung schreien.
Sie fuhren einen holprigen Weg entlang. Bewaffnete Soldaten kamen ihnen entgegen, beachteten sie aber nicht. Sie waren nur eines von vielen Rädchen inmitten der unbarmherzigen Kriegsmaschinerie. An den Rändern der Senke standen Ruinen. Zerschossen und zerbombt dienten sie als Deckung gegen frontale Angriffe. Der Horizont wurde vom Gewitter der Geschütze und Explosionen zerrissen. Donner rollte durch die zerfetzte Heckscheibe in den Wagen. Der Krieg schlief nie, machte keine Pausen, zeigte keine Gnade.
»Da vorne bei den Gebäuden befindet sich der Kommandoposten des Generals.« Akra zeigte auf eine Reihe Hallen, auf die sie zusteuerten. »Nicht weit von hier haben wir eine Verteidigungslinie aufgebaut, von der aus wir die Ratsarmee beschießen.«
»Halt an!«, befahl Devon und deutete auf eine Reihe von Fahrzeugen.
»Wieso?«
»Sieh dir unseren Wagen an. Noch auffälliger wären wir nur, wenn wir ihn mit Lichterketten behängen und laut Weihnachtslieder singen würden.«
»Wir sind doch gleich da.«
»Genau deswegen.«, entgegnete Devon. »Du hast doch selbst gesagt, alle wären extrem angespannt und ich habe kein Interesse daran, mich von Rebellen mit nervösen Zeigefingern abknallen zu lassen, nur weil wir mit dem Wrack hier aussehen, als hätten wir eure Verteidigungslinien durchbrochen.«
»Guter Einwurf.« Akra parkten ihren Totalschaden neben einer Reihe gepanzerter Fahrzeuge.
»Wartet im Wagen.«, befahl Devon. »Ich sehe mich mit Akra kurz um.«
Die beiden Männer stiegen aus und blieben im Schatten der Wagen verborgen. Devon sah zu den vier Hallen hinüber, die wenige hundert Meter entfernt waren. Jede von ihnen war mit einer Nummer von eins bis vier beschriftet. In der Mitte stand ein Bürogebäude.
»Dort müssen wir hin?«, fragte Devon.
Akra zeigte mit dem Finger auf den Bürokomplex. »General Tapesh hat seinen Kommandoposten in dem Gebäude.«
An jeder Ecke und jedem Zugang standen bewaffnete Einheiten der Rebellen. Ihrer Haltung und ihrer Ruhe nach zu urteilen, verfügten sie alle über Kampferfahrung. Devon nahm an, dass sich der General mit vielen ehemaligen Veteranen abgab, die seine Elitetruppen darstellten. Sie waren der harte Kern, der den Rest der Rebellen zusammenhielt.
»Und die Lasarew?«, fragte Devon.
»Sie muss in einer der vier Hallen sein, ich weiß aber nicht in welcher.«, sagte Akra. »Am besten wir warten, bis Nimali wieder bei Bewusstsein ist und gehen dann, einverstanden?«
»Okay.« Devon speicherte die letzten Umgebungsdaten gedanklich ab und wandte sich dann an Akra. »Es tut mir leid.«
Akra runzelte die Stirn. »Was tut dir leid?«
Devon verpasste ihm einen einzelnen Hieb, der den Inder sofort außer Gefecht setzte. Devon packte ihn, bevor er auf den Boden aufschlagen konnte und zerrte ihn zurück zum Wagen. Er legte Akra neben Phobos und erntete überraschte Blicke.
»Was ist passiert?«, fragte Nyx.
»Planänderung.« Devon sprang in den Wagen.
Walker stieß ein raues Lachen aus. »Du hast ihn verarscht.«
»Er musste uns freiwillig in das Lager bringen.« Devon fesselte Akra. »Das ist nicht unser Kampf, wir haben eigene Schlachten zu schlagen.«
Vor allem aber wollte er Walker helfen, denn er war sicher, der sture Exdetektiv würde nicht mehr lange durchhalten. Devon würde sich nie wieder fremden Befehlen unterordnen. Viel zu lange hatte er dem Willen anderer gedient. Er hatte nicht vor, seine Kameraden noch einmal unnötigen Gefahren auszusetzen.
»Du hast also nie vorgehabt, die Rebellion zu unterstützen.«, stelle Nor fest. »Und ich befürchtete schon, du wärst schwach geworden.«
»Schön, dass ich dich überraschen konnte.« Devon warf dem Opti zwei Fesseln zu. »Und jetzt mach dich nützlich. Fessle Nimali und leg sie zu unserem idealistischen Freund!«
Nor tat, wie ihm aufgetragen wurde. Devon stopfte Akra einen Stofffetzen zwischen die Zähne und nickte zufrieden. Der Rebell würde weder fliehen noch um Hilfe rufen können. Nimali erlitt dasselbe Schicksal.
»Verpass ihr eine Ladung, damit sie aufwacht.«
»Was hast du vor?«, wollte Sethi wissen.
»Wir müssen erfahren, in welcher Halle die Lasarew liegt.«, Devon überprüfte seine Wolve, lud sie einmal durch und wartete dann darauf, dass Nor Nimali eine Injektion verpasste.
Eine Weile sahen alle gespannt auf die junge Inderin. Dann riss sie die Augen auf und sog mit einem tiefen Atemzug Luft in ihre Lungen.
»Halte sie fest!«, sagte Devon zu Nor.
Nimali blinzelte gegen die Benommenheit an. Die gegensätzlichen Chemikalien bekämpften sich in ihrem Körper. Ihr Blick sprang verwirrt zwischen ihnen hin und her. Der Schock legte sich nach wenigen Sekunden. An seine Stelle trat eine geballte Ladung Aggression, die Besitz von ihren Gesichtszügen ergriff. Nor hielt sie von hinten umklammert.
»Ihr Schweine, lasst mich sofort los!« Sie kämpfte vergeblich gegen die Fesseln und Nors erbarmungslosen Griff an.
Devon richtete die Waffe auf Akras den Kopf und fragte mit eiserner Stimme: »In welcher Halle liegt die Lasarew.«
Nimalis Gesicht war von Zorn gefurcht, doch als sie sah, wie Devon ihren Freund bedrohte, hielt sie für einen Moment inne. Dann schüttelte sie den Kopf und grinste trotzig. »Du bluffst. Du würdest ihn nicht erschießen.«
»Wo ist unser Gleiter?« Devon trieb seinen Blick wie einen Pfeil in ihre Augen.
»Ich sage euch gar nichts.« Sie schnappte nach ihm und wand sich in ihrer Umklammerung. »Hilfe!«
Nor presste ihr eine Hand auf den Mund und unterdrückte den darauffolgenden Schrei.
»Jetzt hör mir ganz genau zu.« Jede Menschlichkeit war aus Devons Stimme gewichen. »Wir brauchen diesen Gleiter und weder du noch eure Rebellion werden uns davon abhalten, ihn zu bekommen. In diesem Spiel sind wir alle entbehrlich. Entweder du sagst uns auf der Stelle, was wir wissen wollen, oder ich jage deinem Freund hier eine Kugel zwischen die Augen.«
Er sah, wie der Zorn ihre Augen entzündete. Sie blitzte ihn herausfordernd an. Ihr Blick sagte: »Na komm, beweis mir, was für ein harter Kerl du bist.«
In diesem Augenblick verstand Devon, dass sie nicht auf Drohungen ansprechen würde. Er reagierte schnell und entschlossen, zog ein Messer von seiner Kampfmontur und rammte es Akra in den Oberschenkel. Der junge Inder erwachte mit einem Schmerzensschrei, der von dem Knebel verschluckt wurde, und fuhr soweit hoch, wie es die Fesseln erlaubten. Devon warf ihn auf den Bodenbelag des Fahrzeugs zurück.
»Verstehst du mich jetzt?« Er drückte Akra die Pistole an die Stirn.
Der verdrehte die Augen und starrte den Lauf schockiert an. Devon bemerkte nur am Rande das Entsetzen, das sich in Wellen auf Nyx’ Gesicht ausbreitete.
War da Angst in ihrem Blick?
Er wich den Blicken der anderen gezielt aus und konzentrierte sich wieder auf Nimali. »Wo ist unser Gleiter?« Er riss an dem Messer in der Wunde. Akra schrie hinter seinem Knebel auf.
Das widerspenstige Feuer in Nimalis Augen erlosch, hinweggespült von blankem Entsetzen. Sie starrte Akra an, dessen erstickte Laute wie das Gejaule eines verletzten Tieres klangen. Tränen des Schmerzes und der Furcht flossen seine dunkelhäutigen Wangen hinab.
»Wo ist der Gleiter?«, brüllte Devon, dass sie zusammenzuckte.
Er fing ihren verängstigten Blick auf und entgegnete ihm mit der blanken Kälte von Stahl. Er presste den Lauf noch fester gegen Akras Kopf. Sie nickte hastig und blinzelte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Devon gab Nor ein Zeichen, worauf er seine Hand von ihren Lippen nahm.
»Halle drei.«, die Worte sprudelten aus ihrem Mund. »Euer Gleiter steht in Halle drei.« In ihren Augenwinkeln glänzten Tränen. »Lass ihn in Ruhe, du Schwein!«
Nor musste wieder eingreifen.
Devon hielt ihr die Waffe unter die Nase. »Wenn du uns angelogen hast, kommen wir zurück und bringen es zu Ende.«
Er wandte sich ab, verstaute die Wolve unter seiner Kleidung und blickte in das flackernde Weiß von Akras Augen.
»Die Wunde ist nicht lebensbedrohlich. Sie verheilt wieder.«, sagte er mehr zu Nyx als zu dem Inder. In ihrem Blick hingen immer noch Fragmente des Schreckens. Als er sie ansah, erschrak sie. »Behandle die Wunde mit Medispray und gib ihm ein schmerzstillendes Plug!«
Wortlos machte sie sich an die Arbeit.
»Wie gehen wir jetzt weiter vor?«, fragte Sethi und rieb sich die Handgelenke. Sie trug dasselbe sorgsam gepflegte Militärgesicht wie schon damals beim Ratsheer. Devon konnte nicht dahinter blicken und er wollte es im Moment auch nicht versuchen.
»Du spielst die Rebellin, wir die Gefangenen.«, erklärte er ruhig. »Du bringst uns zu Halle drei. Wir setzen die Wachen außer Gefecht und holen uns die Lasarew zurück.«
»Wir wissen nicht, was uns dort drinnen erwartet.«, gab Walker zu bedenken.
»Nein, und dennoch müssen wir es riskieren.«
Keiner hatte Einwände. Devon gefiel der Plan auch nicht, wenn sie jedoch in Indien blieben, würden sie nur wieder zwischen die Fronten geraten. Nur gehörten sie keiner der beiden Seiten an, sie standen irgendwo dazwischen. Oder es käme noch schlimmer und sie fielen Terranis in die Hände. Pax hatte sie gefunden und er würde es mit Sicherheit wieder tun. Ihnen lief die Zeit davon und Devon bezweifelte, hier so bald einen Techchirurgen für Walker zu finden. Sie brauchten diesen Gleiter jetzt und mussten so weit wie möglich weg von Indien, von Pax und dieser Rebellion.
»Knebel sie!«, befahl Devon Nor und sprang aus dem Wagen.
Kurz sah er sich nach potentiellen Gefahren um und gab den anderen dann das Zeichen, ihm zu folgen. Nacheinander kletterten sie aus dem Fahrzeug. Nur Nimali und Akra blieben zurück, ihre Gesichter Summen aus Wut, Schmerz und Enttäuschung.
Devon wollte sich gerade abwenden, da fiel sein Blick ein letztes Mal auf die Umrisse von Phobos’ Körper, der unter der Decke verborgen lag. Trotz all seiner Taten und Lügen hatte er dieses Ende nicht verdient. Devon spürte die vertraute Leere in der Brust, wenn wieder jemand unter seinem Kommando gefallen war. All die Jahre hatte er einen perfekt arbeitenden Verdrängungsprozess kultiviert, der jetzt mit kalter Effizienz einsetzte und Phobos nach und nach aus seinen Gedanken strich. Er war nicht mehr da, er war nicht mehr Teil des Teams, nicht mehr existent. Sie mussten weitermachen, ohne ihn. Terranis lauerte da draußen und niemand wusste, wie ihr nächster Schritt aussah oder wann er erfolgen würde. Zeit für Trauer, Zweifel oder ein Begräbnis gab es nicht. Phobos würde wie Tausende andere als namenloser Gefallener in anonymen Massengräbern verscharrt oder verbrannt werden.
»Wir sind bereit.«, sagte Walker hinter ihm und löste Devon von dem Anblick.
Er nickte. »Wir sind Gefangene, vergesst das nicht.« Er half den anderen, die Kunststofffesseln festzuziehen. Mit dem Messer ritzten sie das Plastik an, dass es einfach zu zerreißen war. »Los jetzt.«
Devon, Nor, Nyx und Walker setzten sich in Bewegung. Sethi, die als Nimali auftrat, folgte ihnen in kurzem Abstand und richtete die Waffe auf sie.
Devon sah seine Kameraden der Reihe nach an. Alle waren verletzt und am Ende ihrer Kräfte. Selbst wenn sie mit der Lasarew fliehen konnten, wusste er nicht, wohin. Sie brauchten eine Pause und einen sicheren Ort, wo sie sich sammeln und ihre weitere Vorgehensweise besprechen konnten. Doch er hatte keine Idee, wo das sein sollte. Sogar das Versteck von Phobos war entdeckt worden. Der Einfluss von Terranis war erdrückend. Auch wenn ihr nächstes Ziel der Wissenschaftler Kenji Komori war, so hatte Devon weder die geringste Ahnung, wie sie ihn erreichen, noch was sie von ihm erwarten konnten.
Devon wollte die Augen schließen und die ganze Welt mit all ihren Problemen verschwinden lassen. Er ließ die Zweifel in sich so lange heranwachsen, bis sie kaum noch zu ertragen waren, dann lud er sie in eine imaginäre Waffe und feuerte sie mit einem gezielten Gedanken ab. Im Moment war keine Zeit für Zweifel. Es galt den Gleiter zu erreichen und sein Team unbeschadet in Sicherheit zu bringen. Mit diesem Ziel vor Augen kehrte seine Entschlossenheit zurück.
Sethi spielte ihre Rolle überzeugend und trieb den Trupp mit harten Befehlen und gelegentlichen Stößen in den Rücken wie eine Herde vor sich her. Rebellen, die nicht gerade mit irgendwelchen Vorbereitungen beschäftigt waren, verfolgten sie mit interessierten und hasserfüllten Blicken. Für die Aufständischen gehörten sie zum Feind. Die Tarnung funktionierte. Sie schafften es unbehelligt bis zum Eingang von Halle drei.
Ein alter Veteran hielt sie mit ausgestreckter Hand auf. Sein jüngerer Kamerad blickte finster drein.
»Halt, was wollt ihr hier?«, übersetzte Devons Sprachimplantat die indischen Worte mit sachlicher Präzision.
»Ich habe hier wichtige Gefangene für Tapesh.«, antwortete Sethi.
Der Blick des Veteranen streifte sie und er grunzte verächtlich. »Wer soll das sein? Der General interessiert sich nicht für irgendwelche Gefangenen.«
»Es ist ein Ghostteam.«, sagte Sethi. »Der General wartet.«
Der Gesichtsausdruck der beiden Wachen veränderte sich und sie warfen einander einen kurzen Blick zu. Das war der perfekte Moment. Devon sprengte die Fesseln, zückte die Wolve und überwand die zwei Meter bis zu dem älteren Inder mit einem einzelnen Satz. Noch bevor der die Situation erfassen konnte, presste ihm Devon die Waffe in den Bauch und drückte mehrfach ab. Dumpf entluden sich die Projektile in die kugelsichere Weste, durchschlugen sie und töteten den Soldaten auf der Stelle. Nor bearbeitete die zweite Wache mit seinem Messer, als wollte er sie für das Abendessen vorbereiten. Alles geschah im Bruchteil eines Augenblickes und beinahe geräuschlos.
Devon schnappte sich Gewehr und Munition des Soldaten und übernahm die Führung. »Schnell, rein.«
Mit gezückten Waffen drangen sie in Halle drei ein. Devon überblickte den provisorischen Hangar mit einem raschen Scan seiner Cyberaugen. Vier Gleiter standen in der Halle: zwei schlanke, wendige Kampfgleiter für den urbanen Einsatz, ein schwerer Kriegsbomber der ersten Generation, alt, aber nicht weniger gefährlich und am Ende die Lasarev. Neben dem Bomber, der gerade mit Raketen und Bomben beladen wurde wirkte die Lasarew wie ein flottes junges Ding. Stromlinienförmig und agil stand sie am hinteren Ende der Halle, wo auch das Haupttor eingelassen war.
Werkstattlärm wehte dem Team entgegen. Funken sprühten, es zischte und hämmerte. Überall liefen Männer und Frauen des Aufstands geschäftig umher. Sie entluden Transporter, transportierten Kisten mit Munition, Sprengstoffen und anderen Materialien. Sie waren so in ihre Arbeiten vertieft, dass ihnen die Gruppe nicht sofort auffiel. Devon sah keine bewaffneten Soldaten, obwohl überall im Hangar Waffenlager waren. Zwischen den Gleitern wurden Kampfdrohnen auf ihren Einsatz vorbereitet.
Erst als das Team den ersten Jagdgleiter passiert hatte, bemerkten einige Anwesende, dass mit der Gruppe etwas nicht in Ordnung war. Aufgeregte Schreie hallten durch den Hangar und rissen die Aufmerksamkeit von den Arbeiten weg, hin zu Devon und seinen Leuten. Werkzeuge und Gegenstände fielen zu Boden, Hände griffen nach Waffen, Befehle gellten durch die Halle.
»Verschwindet, oder wir schießen!«, schrie Sethi, doch ihre Stimme verlor sich in der weitläufigen Halle. Einige Rebellen eilten zu den Waffen.
»Garreth, Nyx, macht die Lasarew startklar. Nor, du gibst ihnen Feuerschutz.«, befahl Devon, wirbelte herum und jagte eine Salve in einen Rebellen, der gerade zu seinem Gewehr greifen wollte. »Anila, wir geben ihnen Rückendeckung.«
Unbewaffnete Arbeiter stoben wie ein Schwarm verschreckter Insekten Deckung suchend auseinander. Der kampfgehärtete Verstand von Devon funktionierte mit äußerster Präzision. Seine getechten Sinne verarbeiteten die Daten mit enormer Geschwindigkeit. Er jagte eine weitere Salve in einen Rebellen, der bereits auf sie angelegt hatte. Den Tod des jungen Mannes, noch kaum erwachsen, registrierte Devon nur am Rande.
Sethi und Devon zogen sich gezielt feuernd tiefer in die Halle zurück und verschafften den anderen so einen Vorsprung. Kaum jemand kam ihnen in die Quere. Angelockt von den Schüssen strömten bewaffnete Aufständische in den Hangar. Devon wusste, dass sie sich beeilen mussten, sonst würden sie bald von einer ganzen Armee überrannt werden. Sie hatten Glück, denn es gab in der Halle viele Deckungsmöglichkeiten in Form von Kisten, Behältern, Transportern und natürlich Gleitern.
Devon und Sethi agierten wie eine einzige Person. Mit der Erfahrung unzähliger Einsätze und dem Vertrauen von Kameraden gaben sie einander Deckung und ermöglichten Nyx und Walker ein schnelles Vorankommen. Nor hatte sich mittlerweile an die Spitze gesetzt und kümmerte sich um die Rebellen, die sich ihnen am Ende der Halle entgegenstellten.
»Wie weit seid ihr?«, fragte Devon und schoss auf zwei Soldaten, die sich ihnen genähert hatten.
»Sind gleich da.«, gab Nyx hektisch zurück.
Devon hatte keine Zeit, sich nach ihnen umzusehen. Die Angreifer nutzten ihre zahlenmäßige Überlegenheit und teilten sich auf. Immer wieder musste er sich hinter eine neue Deckung werfen, um nicht getroffen zu werden. Das Rattern und Tosen der Gewehre formierte sich zu einem tödlichen Orchester. Es fiel ihm und Sethi zunehmend schwer, ihre Verfolger auf Distanz zu halten. Überall blitzten Mündungsfeuer. Rebellen eilten von einer Deckung zur nächsten, teils Soldaten, teils unbewaffnete Arbeiter, die vor dem Kampf flohen. Devon hatte Mühe, sie auseinanderzuhalten. Das Adrenalin peitschte durch seinen Körper. Mit einem Sprung rettete er sich hinter Metallkisten und sah zu Sethi hinüber, die neben einem Rad des Bombers kniete und gezielte Schüsse abgab. Als ein Kugelregen auf sie niederging, warf sie sich mit dem Rücken gegen das Rad.
»Lade nach.« Sie ließ das leere Magazin fallen und schob ein neues in die Waffe. »Letztes Magazin.«
Devon übernahm das Feuern. »Verstanden.«
Als er eine Möglichkeit sah, gab er Sethi ein Zeichen. Sie hetzte zur nächsten Deckungsmöglichkeit. Er versuchte die unzähligen Angreifer hinter ihren Deckungen zu halten. Als Sethi in Sicherheit war, drehten sie den Spieß um und Devon war derjenige, der vor den Kugeln floh.
Vom Adrenalin angepeitscht spürte er die wachsende Schwäche seines Körpers nicht. Sein Körpersystem war im Ausnahmezustand und lief mit den allerletzten Reserven. Früher oder später würden die dauernden Belastungen und die Verletzungen ihren Tribut fordern.
Devon sprang über mehrere Fässer und warf sich hinter einer der Drohnen in Deckung. Das längliche Fluggerät hatte die Form einer Pfeilspitze und die Größe eines Kleinwagens. Devon feuerte daran vorbei auf zwei Soldaten, die ihnen gefährlich nahe gekommen waren. Sie suchten sofort Schutz hinter einem der halb entladenen Transporter. Die Lasarew war nur noch wenige Meter entfernt.
»Wie weit seid ihr?«, fragte Devon und warf Sethi einen Blick zu.
Obwohl auf sie geschossen wurde, agierte sie mit eiserner Ruhe. Im Knien zielte sie knapp an einem Stapel Kisten vorbei und gab präzise Feuerstöße ab. Nor kam ihnen zur Hilfe. Er hechtete von Deckung zu Deckung und hielt die Rebellen mit Streufeuer zurück. Devon wusste, dass das nicht mehr lange klappen würde. Ihre Munition ging zur Neige und die feindliche Übermacht wurde immer erdrückender. Auch von der anderen Seite des Hangars kamen jetzt Schüsse. Devon hörte hinter sich, wie die Triebwerke der Lasarew ansprangen. Ein Dröhnen rollte durch die Halle. Das war ihr Zeichen.
»Rein mit euch!«, hörte Devon die Stimme von Walker in seinem Kopf.
Devon bedeutete Nor und Sethi, sich abzusetzen. Er ging als Letzter. Unter dem Kugelhagel der Rebellen, die nun keine Zurückhaltung mehr kannten, rannten sie zur Lasarew. Sethi sprang durch die Öffnung, dicht gefolgt von Nor. Kugeln zischten an Devon vorbei und schlugen in die schwarze Außenpanzerung des Gleiters ein. Mit einem letzten Sprung brachte er sich in Sicherheit. Durch den Schwung knallte er gegen die Innenwand. Ein spitzer Schmerz jagte durch seine Schulter. Walker schloss das Schott mit einem Schlag auf den Türmechanismus, dann rutschte er an die Wand gelehnt zu Boden.
»Alles in Ordnung?«, fragte Sethi.
Walker nickte müde und wenig überzeugend.
Devon rappelte sich wieder auf. »Sitzt Nyx am Steuer?«
»Ja.« Walker hob seinen zerstörten linken Arm. »So kann ich unsere Lady schlecht steuern.«
Devon ließ die anderen zurück und hetzte nach vorne, wo er Nyx in dem Pilotensitz fand. Sie hatte einen dünnen Schweißfilm auf der Stirn, das Gesicht vor Konzentration verzerrt.
Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Nyx.«
Sie zuckte zusammen und sah ihn erschrocken an. Der Holoschirm spiegelte sich im rotgeäderten Weiß ihrer Augen wider.
»Ich übernehme.«, sagte er.
Mit einem Nicken flüchtete sie aus dem Pilotenstuhl und warf sich in einen der hinteren Sitze.
»Anschnallen da hinten.«, rief Devon über die Schulter.
Die Rebellen feuerten von allen Seiten auf den Gleiter, doch die Außenpanzerung hielt den Angriffen locker stand. Die Lasarew hob ab. Devon drehte sie in Richtung Haupttor. Die Munitionsanzeige war voll. Er betätigte den Feuerknopf. Unter ihnen begannen die Bordgeschütze dumpf zu rattern. Das schwere Kaliber fraß sich durch das Tor wie durch Papier. Devon beschleunigte und hielt auf das zerschossene Tor zu. Rebellen warfen sich auf den Boden, als die Lasarew knapp über ihre Köpfe hinweg fauchte.
Mit einer letzten Beschleunigung jagte Devon die Lasarew hinaus in die Nacht. Die Kollision mit den Resten des Tors schüttelte den Gleiter durch. Kurz verlor er die Kontrolle. Die Lasarew sackte seitlich ab und er musste das Steuer herumreißen. Nyx krallte sich in ihre Gurte.
Sie waren frei. Der Gedanke zuckte einen Augenblick lang durch Devons Verstand, dann wurde er von einem Aufblitzen auf dem Panoramaschirm abgelenkt. Er reagierte instinktiv und kippte die Lasarew zur Seite. Fauchend zog die Rakete an ihnen vorbei.
Die Rebellen hatten sie bereits erwartet. Zwei Panzer rollten auf ihren Ketten heran und eröffneten das Feuer aus ihren Geschützen. Devon riss die Lasarew hoch und brachte die überanstrengten Maschinen zum Aufheulen. Maschinengewehrsalven folgten ihnen als Lichterketten in den verhangenen Nachthimmel. Die Treffer klangen wie schwerer Hagel auf Autodächern. Devon hielt die Steuerung des Gleiters fest umklammert und ließ die Lasarew steil nach oben schießen. Eine zweite Rakete jagte ihnen hinterher. Er vollführte ein Ausweichmanöver und biss die Zähne zusammen. Die enormen Fliehkräfte zerrten an seiner Ausdauer. Das Steuer wandte sich wie ein träges, stures Ding zwischen seinen Fingern. Immer weiter ließ er den Gleiter aufsteigen, bis der Lärm der Angreifer in das Raunen der Motoren überging.
Die Lasarew war ein Interkontinentalgleiter, was ihr eine hohe Flughöhe ermöglichte. Devon wollte den Scan- und Radarsystemen der Rebellen entkommen, falls die Codes nicht mehr funktionieren sollten. Noch eine Weile behielt er den steilen Kurs bei, ehe er den Gleiter wieder in eine normale Stellung brachte. Das Steuer verlor seine Widerspenstigkeit. Devon atmete erleichtert auf und gönnte sich eine Sekunde Ruhe, in der er die Augen schloss.
»Wohin fliegen wir jetzt?«, fragte Nyx.
Devon gab einen Kurs Richtung Europa ein, der sie weg von Kalkutta führte. Zu ihrem Glück hatten die Rebellen den beschädigten Antrieb repariert, sodass sie ihr Lager mit enormer Geschwindigkeit hinter sich zurückließen. Bis sie einen Abfangjäger startbereit machen konnten, waren sie längst verschwunden.
Langsam taumelten die anderen nach vorne.
Walker ließ sich in den zweiten Sitz schräg hinter Devon fallen. »War ganz schön eng.«
»Du überrascht mich immer wieder.«, sagte Nor und Devon glaubte, so etwas wie Anerkennung in der kargen Stimme des Optis zu vernehmen.
»Was wird jetzt aus Akra?«, fragte Nyx besorgt.
»Er ist nicht schwer verletzt.«, antwortete Sethi. »Er kommt durch.«
Davon war nicht stolz auf das, was er dem Inder angetan hatte, aber es war notwendig gewesen. Gleichzeitig musste er sich eingestehen, den Jungen für seine Überzeugung zu beneiden. Er wollte weiter für das kämpfen, woran er glaubte und er hatte Nimali nicht im Stich gelassen. Dennoch hatte sein Idealismus ihnen im Weg gestanden.
»Vermutlich werden sie ihn befragen und dann hinrichten.«, sagte Nor und die Kälte seiner Worte traf den Nacken von Devon wie eine eisige Böe. Er spürte den fragenden Blick von Nyx wie etwas Physisches hinter sich, tat so, als würde er ihn nicht bemerken und klammerte sich an das Steuer des Gleiters.
»Die Rebellen haben andere Sorgen.«, warf Sethi ein.
Devon wusste nicht, ob sie es nur wegen Nyx sagte oder ob sie es wirklich glaubte. Er hatte diesbezüglich nur wenig Hoffnung. Er wusste, dass seine Entscheidung vermutlich das Todesurteil für die beiden jungen Rebellen bedeutete. Er würde es wohl nie erfahren.
Nyx senkte den Blick. »Ich frage mich, ob wir ihnen nicht doch helfen hätten sollen.«
»Wir hatten keine Wahl.«, versicherte ihr Nor. »Je mehr Zeit wir verschwenden, desto schwieriger wird es herauszufinden, was Terranis plant.«
Als die Worte von Nor verraucht waren, füllte sich die Pilotenkanzel mit Schweigen. Vor Devons innerem Auge spielte sich die Szene in der Halle noch einmal ab. Er sah sich selbst, wie er die Waffe mit tödlicher Präzision abfeuerte und einem Rebellen das Leben nahm. Er beschwor sein Gesicht herauf und erkannte, dass er einen Jungen getötet hatte, kaum älter als vierzehn.
Wie viele Unschuldige musste er noch töten, bevor ihn seine gerechte Strafe traf? Sein Gewissen warf ihm die Abbilder von Akra, Nimali und Phobos hin, als wäre es ein Detektiv, der ihn mit Beweisfotos zu seinen Verbrechen konfrontierte.
Er starrte Löcher in den Panoramaschirm. Zorn und Selbsthass füllten ihn aus. Seine Finger verkrampften sich um das Steuer. Verbitterung tropfte wie Säure auf sein Gewissen und zersetzte Tropfen für Tropfen seine Selbstbeherrschung. Kurz bevor er sie verlieren konnte, setzte jedoch sein alter Selbstschutzmechanismus ein und verjagte die bitteren Gedanken an den dunkelsten Ort seines Unterbewusstseins.
»Fliegen wir in die Schweiz?« Nor befreite das Team von der drückenden Stille und holte Devon in die Realität zurück.
Devon wandte sich nicht um, aus Angst, die anderen könnten seinen Gemütszustand erahnen. »Garreth, wie ist die Lage?«
Der Exdetectiv wirkte kraftlos und blutleer. Mit seinen schwer beschädigten Implantaten, der aufgerissenen Körperpanzerung und den blutigen Verletzungen bot er einen besorgniserregenden Eindruck.
»Ich brauch dringend einen Mechaniker.« Er präsentierte ein missglücktes Lächeln, das mehr eine müde Grimasse war.
»Wie lange hältst du noch durch?«, fragte Devon.
»Zehn, maximal zwanzig Stunden, wenn ich Glück habe. Dann ist der Rest Körper, der mir noch geblieben ist, vergiftet und ich gehe drauf.«
Devon presste die Lippen zu zwei schmalen Strichen zusammen, damit ihnen kein Fluch entkommen konnte. Das war nicht viel Zeit, um einen fähigen Techchirurgen aufzutreiben, der sie nicht sofort verraten würde und der auch noch bereit war, es unentgeltlich zu tun.
»Vielleicht finden wir eine Techklinik in der Nähe.«, warf Sethi ein.
»Vergesst es.«, brummte Walker. »Ich lasse nicht noch einmal solche Stümper an meine edelsten Teile.«
»Du wirst draufgehen, Blechmann!«, entgegnete Sethi scharf. »Ist dir das eigentlich bewusst?«
»Hey, macht sich unsere Eisprinzessin etwa Sorgen um mich?« Walker lud ein spöttisches Grinsen auf seine Lippen. Es verrutschte eine Sekunde später und verwandelte sich zu einer schmerzverzerrten Grimasse. »Ah, verflucht. Ich habe eine bessere Idee.«
»Und die wäre?«, fragte Sethi.
»Ich brauche eine sichere Verbindung nach London.« Walker richtete seinen Blick auf Nyx. »Bringst du das zustande?«

Kapitel 3 (Gesamter Text)

3 – Sicherer Hafen

London – Großbritannien

Devon steuerte die Lasarew über eine kleine Ortschaft weit außerhalb von London. Die Luftraumüberwachung Englands hatte sie ohne Nachfrage passieren lassen, obwohl die Sicherheitsmaßnahmen in den letzten Wochen deutlich verschärft worden waren. Die Rebellion machte die Regierung nervös, weshalb Codesignale nicht mehr genügten. Ab sofort wurden alle Fluggeräte zusätzlich von Drohnen kontrolliert und mit den Piloten Kontakt aufgenommen. Nichts davon hatte für die Lasarew gegolten. Devon wusste nicht, wie Walkers Schwester das zustande gebracht hatte, aber sie musste großen Einfluss haben. Dennoch blieb er wachsam. Die letzten Monate hatten ihm bewiesen, dass Vertrauen und das Nachlassen von Wachsamkeit ein Luxus waren, den er sich nicht leisten durfte.
Eine Anzeige verriet Devon, dass sie die angegebenen Koordinaten erreicht hatten. Unter ihnen lagen die Reste eines stillgelegten Metallwerks. Er bestand aus einem länglichen Gebäude in U-Form und mehreren Nebengebäuden. Dazwischen war Platz für Lieferanten und Transporter. Ein Stück weiter gab es Lagerhallen und einen Parkplatz, auf dem ein ziviler Transportgleiter gelandet war. Zwei Männer in Anzügen standen daneben und winkten der Lasarew zu. Devon setzte in der Nähe zur Landung an und aktivierte das Fahrwerk. Das Rauschen des Heckantriebs verklang und wurde durch das Wummern der senkrechten Triebwerke und das Zischen der Stabilisatoren ersetzt. Devon spürte die Vibrationen ihres Duetts, als wäre er im Bauch eines lebenden Wesens gefangen. Er drückte die Lasarew langsam auf den rissigen Boden hinab. Auf dem Panoramabildschirm waren die Anzugträger jetzt deutlich zu erkennen.
Sethi stand plötzlich hinter ihm und sah auf den Schirm. »Unser Empfangskomitee?«
»Scheint so.«
»Glaubst du, wir können seiner Schwester vertrauen?« Sethi flüsterte, als fürchtete sie, Walker könnte sie hören. »Nach allem, was er von ihr erzählt hat, klingt sie nicht besonders vertrauenswürdig …«
Devon konzentrierte sich auf die letzten Sekunden der Landung. Als er spürte, dass das Fahrwerk das Gewicht der Lasarew aufnahm, schaltete er die restlichen Triebwerke aus und sah Sethi an.
»Vertrauen können wir uns nicht länger leisten!« Die Verbitterung in seiner Stimme überraschte ihn selbst. »Wir müssen stets wachsam sein.«
»Verstehe.« Sethi legte ihm eine Hand auf die Schulter und Devon ergriff sie. Sie gestatteten sich diesen intimen Moment und trennten sich dann voneinander.
Devon schälte sich aus dem Pilotensitz. »Wie geht es Walker?«
Sethi zuckte mit den Schultern. »Seit er bewusstlos geworden ist, hat er sich nicht mehr bewegt. Seine Haut ist noch warm, also ist er wohl noch nicht tot.«
»Er hat es vorausgesagt.«, sagte Devon düster. »Hoffen wir, dass er Recht behält und noch eine Weile durchhält.«
Sethi lächelte zuversichtlich. »Der Blechmann ist nicht so leicht totzukriegen.«
»Ja, da hast du wohl Recht.« Er erwiderte ihr Lächeln. »Gehen wir, aber lass die Umgebung nicht eine Sekunde aus den Augen.«
»Du kennst mich.«
Devon nickte. Ja, inzwischen kannte er sie. Gemeinsam gingen sie nach hinten.
Nor war auf den Beinen und sah ihnen entgegen. »Wir sind gelandet. Erwarten uns Probleme?«
»Ein normaler Personentransportgleiter, zwei Männer, vermutlich bewaffnet.«, antwortete Devon. »In der Nähe sind verlassene Gebäude. Wir sollten auf der Hut sein.«
»Verstanden.«
Devon marschierte den Mittelgang der Lasarew entlang und stoppte bei den Liegen am Heck. Nyx saß auf einer davon und kümmerte sich um Walker, der wie tot auf der anderen lag. Sie drehte Devon beiläufig den Kopf zu. Die Anstrengungen und Sorgen der letzten Tage hatten sich tief in ihr ausgezehrtes Gesicht gegraben.
»Atmet er noch?«, fragte Devon.
Nyx nickte.
»Gut.« Devon winkte Nor zu sich, dann wandte er sich wieder an Nyx. »Wir müssen jetzt los. Mach dich bitte bereit.«
»Okay.« Nyx warf Walker einen letzten, besorgten Blick zu und stand dann auf. Wortlos trottete sie in Richtung Sethi davon.
Devon sah ihr nach. Seit ihrer Flucht aus Kalkutta war Nyx ausgesprochen schweigsam. Er fragte sich, ob seine Entscheidung der Grund dafür war, oder ob es nur an der Sorge um Walker lag. Er hatte auch den Tod von Phobos im Verdacht.
Ehe Devon seine Gedanken weiter verfolgen konnte, tauchte Nor mit seiner unverkennbaren Präsenz neben ihm auf, kalt und mächtig. Sein Blick bohrte sich in seinen. Devon suchte in den eisgrauen Augen nach dem gefährlichen Jäger, der nur darauf wartete, dass seine Beute einen Fehler machte. Doch er konnte ihn nicht finden. Er konnte gar nichts finden außer der eisigen Leere, die sich hinter seiner gespielten Menschlichkeit verbarg. Ein Wolf, der die Maske eines Menschen trug.
Devon traute Nor keine Sekunde über den Weg. Er konnte ihnen jeden Moment in den Rücken fallen und doch brauchten sie seine Unterstützung. Wenigstens konnte er sich darauf verlassen, dass Nor an ihrer Seite kämpfen würde, solange Pax noch lebte.
Devon zeigte auf Walker. »Wir müssen ihn tragen.«
Nor nickte und packte den Bewusstlosen am Oberkörper. Devon übernahm die Beine. Der getechte Exdetective wog fast das Doppelte eines Durchschnittsmannes. Sethi stand am offenen Schott und spähte nach draußen. Ihre Blicke streiften den langgezogenen, verfallenen Gebäudekomplex. Jedes Fenster war ein potentielles Versteck für Scharfschützen. Obwohl Devon wusste, dass man sie längst verraten, abschießen oder abfangen hätte können, wollte er kein Risiko eingehen.
Sethi schwang sich mit einer Kombination aus weiblicher Eleganz und militärischer Gefechtsbereitschaft nach draußen, wo die zwei Anzugträger warteten. Da kein Angriff erfolgte, winkte sie die anderen herbei. Nacheinander verließen sie die Lasarew.
»Willkommen in England.«, begrüßte sie ein Anzugträger mit schwerem, britischen Akzent. »Mein Name ist Jones und das ist Mister Morgan.«
Devon musterte die beiden mit analytischem Blick. Kräftige Körper zeichneten sich unter ihren maßgeschneiderten Anzügen ab. Falls sie Implantatträger waren, verbarg ihre Kleidung es, ganz im Gegensatz zu den Halftern. Devon erkannte sie sofort unter den Sakkos.
»Misses Walker hat uns zu Ihrem Schutz geschickt.«, erklärte Jones.
Sethi zeigte auf Walker. »Ihr Bruder benötigt dringend techärztliche Behandlung.«
»Wir wurden bereits darüber informiert.« Jones bedeutete ihnen, ihm zu folgen. »Lassen Sie uns keine weitere Zeit verschwenden, ein medizinisches Team wartet im Gleiter.«
Sie folgten den beiden Männern zu ihrem modernen Fluggerät mit den verdunkelten Scheiben und den Ausmaßen eines Busses. Als sie sich näherten, öffneten sich die Hecktüren und zwei Männer in Weiß nahmen Walker in Empfang. »Legen Sie ihn bitte auf die Bahre, wir kümmern uns um ihn.«
Devons Paranoia sprang an. Im ersten Moment wollte er ihnen Walker nicht überlassen, doch die Vernunft setzte sich schließlich durch. Sie hatten keine andere Wahl als diesen Leuten zu vertrauen. Sie legten Walker auf die Bahre. Flinke Hände huschten über den demolierten Techkörper.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, verlangte Devon zu wissen.
»Sobald Sie Ihren Gleiter dort abgestellt haben …« Jones zeigte auf die heruntergekommene Lagerhalle, »… brechen wir zur Residenz von Misses Walker auf. Über alles Weitere wird sie Sie dann selbst unterrichten.«
Die anderen sahen Devon erwartungsvoll an. Er nickte ihnen zu. »In Ordnung, steigt ein, ich kümmere mich um die Lasarew.«

Es war beinahe ein Monat her, dass Devon London das letzte Mal gesehen hatte. Tagsüber wusste die Stadt nicht annähernd so zu beeindrucken wie nachts. Riesige Turmbauten reckten sich in den grauen, wolkenverhangenen Himmel. Es sah nach Regen aus. Dicht an dicht standen die Gebäude, wie in einem Wald aus Beton, Stahl und Glas.
Ihr Gleiter ordnete sich in die vorgegebenen Luftbahnen ein und trieb im Strom dahin wie die Wagen auf den verstopften Straßen unter ihnen. Vier unsichtbare, programmierte Leitlinien spannten sich zwischen den Gebäuden, Luftstraßen für die unzähligen Fluggeräte, die sich auf diesen vorgegebenen Bahnen zu bewegen hatten.
Devon beobachtete die unmöglich erscheinenden Riesenbauten, die langsam an ihnen vorbeizogen. In den gläsernen Fassaden dieser Monumente spiegelte sich der graue Himmel wider. Die Gebäude schienen sich mit ihren ausgefallenen Designs gegenseitig übertrumpfen zu wollen. Alles was Devon sah, war ein Flickwerk erzwungener Individualität in einer Zeit fehlender Identität. Wuchtige Konzernlogos prangten an den Außenfassaden, eines größer und auffälliger als das Vorhergehende, als würden ihre Ausmaße die Macht des jeweiligen Konzerns repräsentieren. Gleiter verschwanden wie Bienen in den Schwarmstöcken aus Stahlbeton, jeder ein künstliches Ökosystem mit Hunderten oder Tausenden Menschen.
Unter dem grellen Schein der größenwahnsinnigen Bauten verliefen dreckige Straßen, die das Antlitz der glitzernden Metropole wie hässliche Narben verunstalteten. Ausrangierte Gebäude verloren sich zwischen den modernen Superbauten. Bildschirmwände pflasterten die Fassaden und wechselten ihre Werbenachrichten im Sekundentakt. Hologramme tanzten körperlos über die Wege oder schwebten geisterhaft über den Straßen. Dutzende Stimmen flüsterten Wünsche in die Ohren der Bewohner. Alles pulsierte im gnadenlosen Rhythmus des Geldes.
Unter dem Gleiter raste eine Hochbahn durch die Stadt. Sie verlief wie ein Schnitt durch das Zentrum, der die oberen Schichten von den tieferliegenden trennte. Es war, als hätte man London absichtlich in drei Abschnitte geteilt. Zuoberst thronten die Götter in ihren illuminierten Türmen aus Glas, dazwischen lebten die Wohlhabenden und am Boden sammelte sich der Dreck der Gesellschaft.
Der Anblick machte Devon unruhig, was aber nicht an der Rastlosigkeit der Stadt lag. Im Vorbeifliegen erhaschte er einen Blick auf eine Demonstration, der sich ein Trupp gepanzerter Polizisten entgegenstellte. Ihm waren auch die vielen Überwachungsdrohnen und die vermehrte Polizeipräsenz in den unteren Bereichen der Stadt aufgefallen. Das Chaos hatte also auch London erreicht, bereit, die vorherrschende Ordnung zu zerstören. Devon ertappte sich bei der Frage, ob es nicht besser so wäre.
Der Gleiter streifte die letzten Riesenbauten und sank dann tiefer. Villen tauchten unter ihnen auf, eingebettet in üppige Grundstücke mit ausgedehnten Gartenanlagen, Sportplätzen, Pools und anderen Freizeitanlagen. Das gesamte Areal wirkte in der dicht gedrängten Stadt fehl am Platz. Es war eine Oase aus unnatürlichem Reichtum inmitten einer Wüste aus Stahlbeton. Jedes der etwa hundert Anwesen war von hohen Mauern umgeben als wollten sich ihre Besitzer dahinter vor dem drohenden Krieg schützen. Schwer bewaffnetes Sicherheitspersonal verstärkte diesen Eindruck und kratzte an der idyllischen Fassade der Gegend.
»Ich wusste nicht, dass seine Schwester so reich ist.«, staunte Nyx.
Keiner antwortete, sie alle waren zu erschöpft.
»Willkommen in der Bishops Avenue.«, verkündete Jones.
»Die Milliardärsstraße.«, fügte Devon flüsternd hinzu.
Der Gleiter hielt auf eines der vielen Anwesen zu. Auf dem Landeplatz wartete das Empfangskomitee. Walker hatte kaum Erklärungen abgegeben, nachdem er ein langes Gespräch mit seiner Schwester geführt hatte. Sie wussten nichts über das, was sie an diesem Ort erwarten würde. Umso mehr überraschte es Devon, unter den Wartenden Jennifer zu sehen. Jones landete den Gleiter vor der Villa. Noch ehe die Triebwerke ausgelaufen waren, stieß Morgan die Hecktür auf und die beiden Männer in Weiß sprangen ins Freie.
Jennifer lief zum Gleiter, schenkte der Gruppe nur einen beiläufigen Blick und stürzte dann zu Walker, der gerade ausgeladen wurde. Mit Schrecken in den Augen erkannte sie seinen Zustand und die zerstörten Implantate. Sie warf Devon einen vorwurfsvollen Blick zu. »Was ist mit ihm geschehen?«
»Das ist eine lange Geschichte, die er Ihnen selbst erzählen soll …« Er zögerte, »… wenn Sie ihn wieder hinbekommen.«
In ihren Augen blitzte die Entschlossenheit auf. »Garreth hat in meiner Gegenwart nicht zu sterben!« Sie gab den beiden Männern ein Zeichen. Zusammen setzten sie sich in Bewegung und verschwanden gleich darauf in der Villa.
Jones und Morgan standen hinter dem restlichen Team, wachsam und bereit, die Neuankömmlinge wenn nötig außer Gefecht zu setzen. Für einen Moment glaubte Devon, dass genau dies geschehen würde, doch stattdessen kam eine Erscheinung um den Gleiter stolziert. Etwas an ihr verriet Devon sofort, dass sie Joana Walker, die Schwester von Garreth sein musste. Ihre Bewegungen waren von einer kompromisslosen Eleganz geprägt, als wäre jeder Schritt eine präzise kalkulierte Marketingentscheidung. Ihr Körper enthielt alle Formeln aktueller Schönheitsideale. Sie war groß, schlank, hatte lange Beine, üppige Brüste, verführerische Lippen, makellose Haut und glänzendes Haar.
Ein schwarzes, enganliegendes Kleid zeichnete ihre Umrisse noch schärfer. Der Stoff veränderte sich mit jedem Schritt, als wäre er lebendig, wechselte in ein dunkles Rot, das in langsamen Wogen über das Material hinweg glitt. Ihr tiefschwarzes Haar ergoss sich in perfekten Wellen über ihre Schultern. Die Spitzen endeten im selben Rot wie ihr Kleid. Nur eine einzelne, sorgfältig platzierte Locke hing ihr in das Gesicht.
Doch ihre Gestalt machte nur einen Bruchteil ihrer beeindruckenden Erscheinung aus. Sie strahlte eine Aura der Selbstsicherheit aus, die sich in ihren intelligenten Augen verdichtete. Sie sah wie eine Frau aus, die sich ihrer Reize durchaus bewusst war und die ihre Macht und Ausstrahlung gezielt zu nutzen wusste.
Joana machte knapp vor dem Team halt. Ausdrucksstarke, dunkelbraune Augen, eingerahmt von schwarzem Lidschatten, musterten sie eingehend. Sie zeigte ein genau justiertes Lächeln, das gleich einer geladenen Waffe auf ihren Lippen ruhte, bereit, mit einem Befehl ihr Leben zu beenden. »Sie sind also Garreths Freunde.«
»Dann müssen Sie seine Schwester Joana sein.« Devon kam sich neben ihrer makellosen Gestalt plötzlich furchtbar schmutzig vor.
»Ja, das bin ich, auch wenn Garreth das vermutlich liebend gerne abstreiten würde.« Sie wirkte fasziniert von ihren Gästen, als wären Außerirdische auf ihrem Rasen gelandet. Ihre Lippen dehnten sich zu einer minimal breiteren Version eines Lächelns. Sie öffnete die Hände zu einer einladenden Geste. »Sie alle scheinen eine anstrengende Zeit hinter sich zu haben. Ich schlage vor, Sie lassen sich zuerst von meinem Arzt behandeln. Danach erhalten Sie die Möglichkeit, sich zu waschen und sich von Ihren schmutzigen Kleidern zu trennen.«
In Devons Ohren klang das unmöglich. Die Erinnerung an die letzte ausgiebige Dusche war nur noch ein verschwommener Traum. Er wollte nicht daran denken, welchen Geruch er verbreitete.
»Bevor Sie mein Heim betreten, muss ich Sie jedoch bitten, Ihre Waffen abzugeben.«
Obwohl sie es als Bitte formuliert hatte, wurde schnell klar, dass es keine war. Devon gab den anderen einen Wink und sie übergaben den Wachmännern ihre Waffen.
»Wenn Sie mir dann bitte folgen würden.« Joana nickte zufrieden, vollführte eine geschmeidige Drehung auf ihren hohen Absätzen und stolzierte voraus. Jones und Morgan folgten der Gruppe in sicherem Abstand.
Die Villa schien dem Geist eines exzentrischen Künstlers entsprungen zu sein. Es war eine grelle Kombination zwischen alter, britischer Backsteinästhetik und modernem Dekonstruktivismus. Zugunsten einer originellen Optik war auf übliche Normen verzichtet worden. Einzelne Elemente der Architektur wirkten deplatziert, als hätte jemand wahllos geometrische Formen auf einen Haufen geworfen und zu einem Gebilde vermischt. Vor ihnen öffnete sich eine gläserne Doppeltür vollautomatisch und sie traten ein. Der Eingangsbereich begrüßte sie mit dem Duft blühender Blumen. Sie spazierten einen Weg aus polierten Steinplatten entlang, durch einen Garten mit künstlichem Sonnenlicht und automatischen Bewässerungsanlagen. Unter ihren Füßen plätscherte Wasser. Drohnen vollführten fleißig ihre Arbeiten am Erdreich und an den Pflanzen. Als sie die Ankömmlinge bemerkten, verschwanden sie wie verängstigte Tiere in den Wänden.
»Mein kleiner Privatgarten.«, kommentierte Joana die neugierigen Blicke.
Egal wohin sie kamen, überall öffneten sich ihnen lautlos Türen und gingen Lichter, Hologramme und Bildschirmwände wie von Geisterhand an. Nichts deutete darauf hin, dass in der Villa Menschen lebten. Jeder Zentimeter war auf Hochglanz poliert und makellos. Es schien, als läge ein Zauber über der Villa und Joana war diejenige, die ihn ausgesprochen hatte. Devon fühlte sich in eine andere Welt versetzt, weitab von der Armut und den Kämpfen Kalkuttas. Der Kontrast war so stark, dass er davon Kopfschmerzen bekam.
»Was geschieht jetzt mit Garreth?«, fragte Nyx in die Stille hinein.
»Jennifer kümmert sich um ihn.«, antwortete Joana, während sie durch ihr Zauberreich schwebte. »Wie sie das immer tut. Morgen wird er wie neu sein, keine Sorge.«
Ihr Weg führte sie in eine modern ausgestattete Medizinstation. Ein Arzt empfing sie mit einem schneeweißen Lächeln.
»Ich darf Ihnen Doktor Thamir Raji Safar vorstellen.«, sagte Joana. »Er wird sich Ihrer Verletzungen annehmen.«
Safar deutete eine Verbeugung an. Mit seinem Lächeln, dem makellosen Sitz seiner Kleidung und dem perfekten Haarschnitt wirkte er mehr wie ein Stockfoto als ein Mediziner vom Fach.
»Und nun entschuldigen Sie mich bitte für einen Augenblick.« Joana gab ihren Bodyguards ein Zeichen. »Mister Jones und Mister Morgan werden sich in der Zwischenzeit um Sie kümmern.«
»Da bin ich mir sicher.«, sagte Devon, bevor sie sich ganz zum Gehen abgewandt hatte. Sie warf ihm ein fein justiertes Lächeln zu, nickte dann kaum erkennbar und schwebte aus dem Raum.
Ihre beiden Bewacher blieben breitbeinig und mit vor dem Körper verschränkten Armen an der Eingangstür stehen.

Die Untersuchungen und Behandlungen Doktor Safars nahmen etwa eine Stunde in Anspruch. Es stellte sich heraus, dass keiner von ihnen bleibende Schäden davontragen würde. Devon durfte sich über zwei gebrochene Rippen und andere Blessuren freuen. Sethi und Nyx hatten bis auf ein paar kleinere Wunden kaum etwas abbekommen und selbst die schweren Verletzungen von Nor heilten bereits. Die Struktur seines Körpers und der Krebs verpassten dem Arzt einen Schock, von dem er sich in den nächsten Tagen erholen würde müssen.
Nach der Behandlung führten ihre Bewacher sie zu vier nebeneinanderliegenden Gästezimmern. Devon spürte das angenehme Pulsieren der Plugs, die ihm heilende Substanzen und schmerzlindernde Mittel in die Blutbahnen schickten. Er fühlte sich in ein warmes Gefühl dumpfer Schmerzlosigkeit gehüllt. Die Abwesenheit von Schmerz erschien ihm seltsam fremd.
»In einer Stunde erwartet Misses Walker sie alle zum Abendessen.«, sagte Jones und überreichte jedem von ihnen eine Karte. »Da sie entweder ID-Switcher implantiert haben oder über keine ID-Chips verfügen, sind diese Codekarten zum Öffnen ihrer Zimmer notwendig. Ich empfehle Ihnen ausnahmslos, sich zivilisiert zu verhalten.«
Devon spürte den wachsamen Blick von Jones auf sich ruhen. Er erwiderte ihn, nickte knapp und nahm die Karte entgegen. Die beiden Wachmänner zogen sich an jeweils ein Ende des Gangs zurück, wo sie zu Statuen erstarrten.
»Mir kommt das alles seltsam vor.«, sagte Sethi.
»Bleibt wachsam.«, sagte Devon. »Wir wissen nicht, wem wir hier vertrauen können.«
Nyx kratzte sich am Kopf. »Ich freue mich trotzdem auf eine Dusche.«
Devon musste lächeln. Er war froh, dass sie endlich wieder sprach. Für seinen Geschmack war sie in letzter Zeit zu still gewesen. »Da muss ich dir Recht geben.«
»Gut, dann sehen wir uns in einer Stunde.«, sagte Sethi.
Devon fand sich in seinem Zimmer ein, das die perfekte Symbiose aus königlichem Prunk und schlichter Konzernästhetik darstellte. Scharfkantiges, poliertes Chrom ging in fein gearbeitetes Holz über. Moderne Technologie versteckte sich hinter traditionellem Design.
»Willkommen, Mister Reeves.«, begrüßte ihn eine sanfte Frauenstimme.
Wieder eine KI.
Langsam entwickelte er eine Abneigung gegen die Maschinenintelligenzen.
»Wenn Sie Wünsche haben, lassen Sie es mich bitte wissen.«
»Danke, aber ich hätte einfach nur gerne meine Ruhe.«
»Verstanden.«, sagte die KI. »Neben dem Bett finden Sie eine Konsole, über die Sie alle Funktionen des Zimmers steuern können. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag.«
Danach schwieg die KI. Devon war froh. Er hatte kein Interesse daran, sich mit einem Computerprogramm zu unterhalten. Die perfekte Stille des Gästezimmers umarmte ihn und nahm ihn ganz in sich auf. Er seufzte die Anspannung der letzten Tage aus. Für einen Augenblick vergaß er seine Wachsamkeit und ließ sich auf das Bett fallen. Er starrte gedankenverloren zur Deckenbemalung hinauf. Nach einer Weile bemerkte er, dass es sich dabei um ein Display handelte, das sich in regelmäßigem Abstand veränderte.
Als er dalag, öffnete die Stille alle Schleusen zu seinem Bewusstsein. Finstere Gedanken quollen wie Eiter aus frisch geöffneten Wunden und durchdrangen den Schleier der Plugs. Die Wahrheiten und der Tod von Phobos, der Verrat an Akra und den Rebellen, der Angriff von Pax, die Erinnerungen an Jessica. Gemeinsam kratzten sie die Entspannung von ihm ab und legten den blank geschliffenen Kern seiner Paranoia frei. Er richtete sich mit einer Bewegung auf und scannte das Zimmer mit misstrauischen Blicken. An einer Wand hing ein gerahmtes Gemälde, das sich nach einer festgelegten Zeitspanne veränderte. Noch ein Bildschirm.
Neben sich auf dem Bett bemerkte Devon drei Stapel Kleider. Er sah sich die maßgeschneiderten Stücke aus Kaschmir an. Sie entsprachen genau seiner Größe.
Devon verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Waren das die Kleider, die sie zu ihrer Henkersmahlzeit tragen sollten oder wollte Joana nur verhindern, dass ungepflegte Fremde durch ihr makelloses Heim stapften und dabei Dreck und Gestank verbreiteten? Devon durchsuchte die Kleidungsstücke nach Wanzen oder anderen Gefahren. Als er nichts fand, setzte er seine Überprüfung des Raums fort.
Auf einem hölzernen Nachtschrank neben dem Bett stand ein Telefon, wie man es vor über hundert Jahren verwendet hatte. Dahinter verbarg sich ein topmodernes Kommunikationsmodul. Es wurde zweifellos überwacht. Nicht anders würde es sich mit der Zonebox verhalten. Er warf dem Gerät einen verächtlichen Blick zu und sah sich weiter um. Er nahm sich jeden Winkel des Raums vor, fand aber keine Anzeichen von Abhörgeräten.
Einen Moment lang stand er da und lauschte in die Stille hinein. Er bemerkte durch die Wirkung des Plugs hindurch, wie müde und ausgelaugt er war, geistig wie körperlich. Die Hoffnung auf ein wenig Sicherheit und Ruhe vertrieb seine Paranoia und er gestattete sich, seine Wachsamkeit fallen zu lassen.
Ohne das Gefühl, jemand säße ihm im Nacken, ging er zu dem hohen, sich nach oben verjüngenden Fenster und sah nach draußen. Der Himmel hatte die Textur von geschliffenem Metall. Sein Blick fiel auf eine gläserne Pyramide außerhalb der Villa, in deren Innerem sich eine bunte Poollandschaft ausbreitete.
Er erinnerte sich an die Zeit zurück, als man mit allen Mitteln versucht hatte ihn zu überreden, ein Ghost zu werden. Dort hatte er das erste Mal in seinem Leben wahren Luxus kennen gelernt.
Er erinnerte sich an die intensive Nacht mit Mei Zhao, spürte ihre nackte, feuchte Haut auf seinem Körper, den Regen der Dusche und ihre Vereinigung. Für einen Augenblick genoss er die glasklare Erinnerung. Er wusste bis heute nicht sicher, ob es nur ein weiterer Versuch des Rates gewesen war, ihn zu überreden, ein Ghost zu werden. Viel hatte sich seither verändert. Nun war er ein gesuchter Verbrecher und Verräter. Er wandte sich vom Fenster ab. Eine belebende Dusche war jetzt genau das, was er brauchte. Er entschloss, die Stunde zu nutzen und den Dreck der vergangenen Tage abzuwaschen.

Kapitel 4 (Gesamter Text)

4 – Tiefe Gräben

London – Großbritannien

Erfrischt von einer heißen Dusche und in saubere Kleider gehüllt, betrat Devon den Speisesaal. Er war noch vor der angegebenen Stunde angekommen, da er die Lage auskundschaften wollte. Jones, der ihn begleitet hatte, postierte sich mit stoischer Ruhe am Eingang.
Devon fand sich inmitten einer malerischen Herbstumgebung wieder. Der ovale Esstisch aus Holz stand auf dem saftigen Grün einer weiten Grasfläche, umgeben von Bäumen in bunter Farbenpracht. Die Sonne schickte ihre belebenden Strahlen auf ihn herab. Vögel flogen zwitschernd über ihn hinweg und die Luft war von einer herbstlichen Frische erfüllt. Devon wusste, dass das alles nur eine perfekte, digitale Illusion war. Eine komplexe Kombination aus Bildschirmen, Hologrammen, Lautsprechern und Lichtelementen, aber die Wirkung war dennoch eindrucksvoll. Joana erwartete ihn bereits.
»Sie kommen früh, Mister Reeves.«, stellte sie fest, ohne sich anmerken zu lassen, ob sie die Tatsache störte oder nicht.
»Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.«, log Devon.
Sie zwinkerte ihm verständnisvoll zu. »Nehmen Sie doch bitte Platz.«
Devon zog einen der massiven Stühle zurück, die aus Holz gearbeitet und mit aufwändigen Mustern versehen waren. Er versank in rotem Samt.
Joana wählte den gegenüberliegenden Platz und musterte ihn ungeniert. »Bei dem Anblick könnte man doch glatt annehmen, Sie wären ein gewöhnlicher Mann.«
Devon warf einen kurzen Blick auf sein Outfit. Es bestand aus einer schwarzen, äußerst bequemen Hose samt Gürtel, Lackschuhen und einem weißen Hemd, dessen oberste zwei Knöpfe er geöffnet hatte. Die Ärmel hatte er bis knapp unterhalb der Ellbogen aufgekrempelt.
»Gelegentlich bin ich das auch.«, gab er nüchtern zurück.
Eine hübsche, blutjunge Angestellte trat an ihn heran. »Was darf ich Ihnen zu trinken bringen?«
Devon zögerte. Er sah sie mit Ehrfurcht an, als wäre sie ein Engel, der vom Himmel herabgestiegen war, um seinen Durst zu stillen. Ihre Wangen wurden bei dem Blick rot.
»Was halten Sie von Whiskey?«, half Joana aus.
»Bier.«, schoss es aus ihm heraus. »Wenn Sie nichts dagegen haben.«
Joanas Lächeln weitete sich um wenige Millimeter. Ihr Blick wanderte von seinem gezeichneten Gesicht zu dem geröteten ihrer Angestellten. »Bringen Sie uns doch bitte zwei Flaschen Vieille Bon Sexours Ale.«
Devon wartete, bis die Frau verschwunden war, und forderte dann Joana mit einem ernsten Blick heraus. »Wieso helfen Sie uns?« Die Frage brannte ihm seit ihrer Ankunft auf der Zunge.
»Mein Bruder bat mich um Hilfe.« Sie zeigte keine Reaktion und versteckte ihre wahren Motive hinter einem dezenten Lächeln.
Die Antwort stellte Devon nicht zufrieden, obwohl er den Wahrheitsgehalt nicht überprüfen konnte. Er beließ es vorerst dabei. »Sie wissen, wer ich bin?«
Joana kicherte kurz und sah ihn mitleidig an. »Auch wenn man Ihr Gesicht unter dem Wildwuchs und den vielen Blessuren kaum zu erkennen vermag und Ihr ID-Switcher Sie als eine Reihe unterschiedlicher Personen ausweist, so bin ich doch im Bilde. Ich würde niemals jemanden in mein Haus lassen, ohne zu wissen, wer mir die Ehre gibt.«
Joana wischte sich die Strähne aus dem Gesicht, die aber schon eine Sekunde später wieder ihre alte Position bezog. Es war eine einprogrammierte Geste, ein Markenzeichen.
»Mister Reeves, es behagt Ihnen nicht, dass jemand wie ich einem gesuchten Massenmörder und seinen Kameraden so freimütig Unterschlupf gewährt.«
»Ja, da haben Sie vollkommen Recht, das behagt mir nicht.«
»Sie können unbesorgt sein. Wenn ich so naiv wäre, all den medialen Unsinn zu glauben, der uns tagtäglich aufgetischt wird, würde ich heute nicht an diesem Tisch sitzen.« Sie schüttelte ihr Haar aus und blinzelte ihn an. »Binnen eines Tages vom gelobten Helden zum verachteten Monster. Das halte ich dann doch für eine leicht übertriebene Wendung.«
»Das erklärt aber immer noch nicht, wieso Sie ein solches Risiko auf sich nehmen, nur um uns zu helfen.«
Die junge Angestellte unterbrach das Gespräch mit ihrem Auftauchen. Sie brachte die Getränke, goss ihnen ein und verschwand dann wieder im Nebenraum. Es sah so aus, als würde sie plötzlich inmitten der wundersamen Herbstumgebung verschwinden.
Devon betrachtete fasziniert die perfekt geformte, weiße Krone, die sich über seinem goldgelb prickelnden Bier erhob.
»Zweifeln Sie etwa an meinen hehren Motiven?«, fragte Joana.
»Ich weiß nicht, was Garreth Ihnen erzählt hat, aber ich bin für meine Freunde verantwortlich.« Devon ließ Schärfe in seiner Stimme mitschwingen. »Ich kann mir Vertrauen nicht leisten.«.
»Und Sie tun gut daran, Mister Reeves.« Sie lächelte verständnisvoll ihr symmetrisches Lächeln. »Es stimmt. Ich lehnte mich für Sie alle weit aus dem Fenster. Allein Sie hier zu haben stellt ein nicht zu unterschätzendes Risiko für mich und meine Geschäfte dar. Gleichzeitig bringt es mir keinerlei Vorteil. Sie fragen sich vermutlich, welchen teuflischen Handel Garreth eingegangen ist.«
»Ja.«, sagte Devon knapp und umfasste sein Glas. »Auf welche Dämonen hat er sich eingelassen?«
Joana machte eine Pause und nahm das Glas zur Hand. Sie trank unter Devons forschendem Blick. Der Schaum hinterließ einen weißen Halbkreis auf ihren Oberlippen, den sie wenig elegant mit dem Handrücken wegwischte. »Echt geiles Zeug, Sie sollten es probieren!«
Dieses Gehabe wollte nicht in ihr perfektes Auftreten passen und Devon verengte die Augen.
Als sie das sah, lachte sie amüsiert auf. »Mein Bruder und ich kommen aus einer finsteren Gegend in London. Ich weiß, was es bedeutet, in Angst und Armut aufzuwachsen. Das schweißt zusammen.«
Sie machte eine Pause, in der ihr Blick für einen Moment in einer alten Erinnerung festzuhängen schien. »Auch wenn Garreth das wohl ein wenig anders sieht, ist er doch nach wie vor mein Bruder, meine Familie und ich liebe ihn, wenn mir diese, heutzutage leider inflationär gebrauchte, Phrase erlaubt ist. Er bat mich um Hilfe und ich setze alles daran, ihm diese zuteil werden zu lassen. Ich weiß nicht, wie viel Sie von meinem geschätzten Bruder wissen, aber seinen derzeitigen … Zustand hat er mir zu verdanken. Obwohl das in seinen Augen die schrecklichste Tat sein dürfte, die ich je begangen habe.«
Devon suchte in ihrem makellosen Gesicht nach Anzeichen einer Lüge, scheiterte jedoch an ihrer perfekten Maskerade. Ihr Blick wanderte plötzlich an ihm vorbei. Er wandte sich um. Die anderen waren gerade eingetroffen. Nor trug ähnliche Sachen wie Devon, nur war das Hemd schwarz, als hätte Joana die finstere Seite in ihm erkannt und die passende Farbe gewählt. Nyx und Sethi steckten in bequemen Jeans und Shirts. Sie sahen alle um einiges besser und erholter aus als noch vor einer Stunde.
Joana erhob sich, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. »Bitte nehmen Sie doch Platz.«, sagte sie mit beruflicher Freundlichkeit und zeigte auf die Stühle. »Das Abendessen wird in Kürze serviert.«
Sie setzten sich alle auf die Seite von Devon. Joana blieb einsam auf ihrer Seite des Tisches. Sie registrierte diese Tatsache mit einem leisen Lächeln ihrer blutroten Lippen. Ihr Blick traf Nyx. »Sie müssen Nyx sein.«
Nyx riss sich von dem herbstlichen Anblick los. »Ja und Sie sind dann wohl Garreths Schwester.«
»So ist es.« Joana sah die anderen Gäste der Reihe nach an. »Miss Sethi und Mister Nor.«
»Mister Nor.« Nors Stimme dröhnte im Speisesaal wie Donner. Für einen Augenblick glaubte Devon, einen Anflug von Belustigung an ihm zu bemerken. »So wurde ich noch nie angesprochen.«
»Bevorzugen Sie eine andere Anrede?«
»Nor reicht vollkommen.«
Joana konzentrierte sich wieder auf Devon. »Wo waren wir stehen geblieben?«
»An dem Punkt, wo ich nach nachvollziehbaren Beweggründen für Ihre Hilfsbereitschaft gesucht habe, und Sie mir zu erklären versuchten, Sie hätten es nur Ihrer Liebe zu Garreth wegen getan. Sie sagten, seine … Verwandlung sei wohl die schrecklichste Tat, die Sie je begangen hätten.«
Sie machte eine wegwerfende Geste. »Nur ein weiterer Tropfen auf unserer untergegangenen Beziehung.« Sie sagte es beiläufig, doch etwas an ihrem Blick ließ Devon an ihren Worten zweifeln. »Wenn es nach Garreth ginge, wäre er längst den Heldentod gestorben und ich auf einem Scheiterhaufen verbrannt.«
Devon dachte an Walker und wie er sich regelmäßig ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben in äußerste Gefahr brachte. Manchmal erschien er ihm wie ein Junkie, der ständig auf einem Trip zwischen Leben und Tod war und nach dem nächsten Kick suchte.
»Ist hier ja fast wie in den Zones.«, sagte Nyx plötzlich und sah sich in der künstlichen Umgebung um. Ihr Blick verfolgte einen Vogel, der knapp über den Tisch flog und in der Ferne verschwand. Die Illusion war nahezu perfekt.
Joana nickte wissend. »Die Wunder moderner Technik.«
Die Kellnerin erschien zusammen mit zwei weiteren Bediensteten wie aus dem Nichts. Während die beiden das Essen auf silbernen Tabletts auftrugen, nahm sie die restlichen Getränkebestellungen auf. Devon ließ Joana nicht eine Sekunde aus den Augen. Sie registrierte es, machte aber keine Anstalten, seinem Blick auszuweichen.
Immer mehr Tabletts bedeckten die ovale Tafel. Unter Silberhauben verborgen verströmten die Gerichte einen betörenden Duft. Je mehr Devon davon einatmete, desto stärker wurde das zerrende, jämmerliche Gefühl in seiner Körpermitte.
Eine Bedienstete ging mit einem kelchähnlichen Gefäß von einem Gast zum nächsten und bot jedem kleine weiße Pillen an.
Nyx nahm eine der Kapseln zwischen Daumen und Zeigefinger und verengte die Augen. »Was ist das?«
»Slimpills.« Joana ließ eine Pille hinter ihren Lippen verschwinden und spülte einen Schluck Bier hinterher. »Helfen bei der Verdauung der Speisen.«
Nyx runzelte die Stirn und sah sie an wie eine Außerirdische. »Danke, aber ich glaube, das bekomme ich noch selbst hin.«
»Natürlich.« Joana blinzelte sie gütig an.
Als kaum noch Platz auf dem Tisch war und jeder Gast mit Getränken versorgt war, lüfteten die Bediensteten die schmackhaften Geheimnisse unter den Hauben. Vor den Augen des Teams tat sich ein buntes Potpourri an Speisen auf. Sie waren wie moderne Kunst auf den Tabletts arrangiert, dass Devon sich fragte, ob man davon essen durfte. Er versuchte, in den erlesenen Kreationen die Herkunft der Speisen zu erraten.
»Da ich Ihre kulinarischen Vorlieben nicht kenne, habe ich mir erlaubt, eine Auswahl an unterschiedlichen Gerichten zubereiten zu lassen.«, sagte Joana.
Verhalten wie scheue Tiere warteten die Gäste darauf, dass etwas Magisches geschah. Die Blicke hüpften von einer Verlockung zur nächsten, während die Gerüche zu einem intensiven Aroma verschmolzen.
»Bitte, greifen Sie zu.« Joana streckte ihre Hände nach einigen Fleischstücken aus. »Nur keine falsche Scheu.«
Devon zögerte nicht länger und griff zu. Als das Eis gebrochen war, machten sie sich gemeinsam über das opulente Mahl her. Er hatte noch nie so fein gegessen. Er hielt ein Stück knuspriges Fleisch mit der Gabel vor sich, betrachtete es stirnrunzelnd und versuchte mit seinen Geschmacksnerven zu ergründen, welches Tier da gerade auf seiner Zunge zerging.
»Ich hoffe, es schmeckt Ihnen, Mister Reeves.«, sagte Joana.
Devon kam nicht umhin zu grinsen. Er hatte seine Wachsamkeit wieder fallen lassen. »Wer auch immer das zubereitet hat, sollte unbedingt befördert werden.« Er ließ ein weiteres Fleischstück zwischen seinen Zähnen verschwinden.
»Ich werde es in Erwägung ziehen.«
Sethi hob ihre Gabel und beugte sich vor. »Eine Frage.«
Joana bedeutete ihr, zu sprechen. »Nur zu.«
»Wieso tun Sie das?« Sethi zeigte mit der Gabel auf die Hausherrin. »Sie müssen doch wissen, in welche Gefahr Sie sich mit unserer Anwesenheit bringen.«
»Wie ich bereits Mister Reeves erklären durfte, blieb mir keine andere Wahl, wenn ich meinem Bruder helfen wollte.«
»Interessant.« Sethi verzog das Gesicht. »Es machte ja nicht gerade den Anschein, als wäre Ihr Verhältnis besonders eng.«
»Garreth würde vermutlich sagen, dass es da überhaupt kein Verhältnis gibt.« Joana lehnte sich zurück und sah zum projizierten Horizont. »Aber Sie haben wohl Recht, es steht nicht gut um unsere Beziehung.«
»Warum?«, fragte Nyx.
Joana seufzte und erlaubte für einen Augenblick einer Falte die Existenz auf ihrer Stirn. »Garreth und ich hatten schon immer etwas … unterschiedliche Ansichten über Gerechtigkeit.«
»Womit verdienen Sie überhaupt Ihre Kohle?«, fragte Nyx, während sie noch ein Stück Fleisch kaute. »Der Laden muss doch ein Vermögen gekostet haben.«
Joana bedachte sie mit einem sorgsam kalibrierten Blick und legte die Gabel zur Seite. Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch und verschränkte ihre feingliedrigen Finger miteinander. »Was hat er Ihnen denn von mir erzählt?«
»Nicht viel.«, antwortete Devon. »Nur, dass Sie reich sind.«
»Schämt er sich so sehr für mich?« Das nichtssagende Abwehrlächeln Joanas schien einen Moment lang brüchig zu werden, doch es verfestigte sich einen Wimpernschlag später wieder. »Ich löse Probleme.«
»Sie lösen Probleme?«, wiederholte Sethi spöttisch.
»Genauso ist es. Ich berate und unterstütze Konzerne, Politiker, Organisationen und andere Einzelpersonen bei problematischen Themen.«
»Jennifer hat etwas in der Art bei unserem ersten Gespräch erwähnt.«, erinnerte sich Devon jetzt.
»Sie erledigen die Drecksarbeit für die Reichen.«, warf Nor ein.
Joana würdigte Nor eines kurzen Seitenblickes und nickte dann, als wäre es die treffendste Erklärung für das, was sie machte. »Vulgäre Worte, aber ja, ich erledige die Drecksarbeit für die Reichen.«
»Was heißt das nun genau?« Nyx knabberte verwirrt an einem Stück Gemüse. »Wie können wir uns das vorstellen?«
»Das ist schwierig zu definieren. Meine Firma deckt ein breites Spektrum an Dienstleistungen ab. Aber ich will Ihnen Beispiele nennen.«, sagte Joana und legte sich eine passende Erklärung parat. »Sagen wir, ein Konzern zeigt Interesse am Mitarbeiter eines konkurrierenden Unternehmens, doch die Knebelverträge der Großkonzerne erlauben keinen Wechsel. In diesem Fall übernehmen wir für unseren Kunden die Extraktion dieses wertvollen Mitarbeiters.«
»Und wie läuft so etwas ab?«, fragte Nyx.
»Auf unterschiedliche Weise, je nachdem, welche Maßnahmen die Situation erfordert.«
»Auch gewaltsam?«
»Wir versuchen, derartige Maßnahmen so gut es eben geht zu vermeiden, aber wenn erforderlich, ja.«
»Das ist aber nicht alles, oder?«, fragte Sethi.
»Nein.« Joana wischte sich die Strähne aus dem Gesicht. »Wie bereits erwähnt hat sich der Umfang unserer Dienstleistungen in den letzten Jahren vergrößert. Wir beraten Konzerne auch bei anderen Problemen und Patentstreitigkeiten. Wir unterstützen Politiker, indem wir Gegenkandidaten aus dem Rennen nehmen und bereinigen ungewollte schwarze Flecken auf sonst makellos weißen Hemden. Kurz gesagt: Wir tun, was notwendig ist, wenn sich andere die Finger nicht schmutzig machen wollen. Offiziell gelten meine Leute nur als schwer überbezahlte Berater.«
Die Beschreibung erinnerte Devon sofort an Terranis, nur in kleinerem öffentlichen Rahmen, behielt den Gedanken jedoch für sich.
Nyx schüttelte sich. »Das ist krank.«
»So ist die Welt nun einmal.«, gab Joana ungerührt zurück. »Besser ein weiteres Symptom sein als ein wirkungsloses Heilmittel.«
Devon hörte eine Anspielung auf Walker heraus.
»Ihre Dienste haben natürlich ihren Preis.«, warf Sethi ein.
»Alles auf dieser Welt hat seinen Preis.« Joana nippte an ihrem Glas. »Wie Ihre charmante Kameradin bereits angemerkt hat, hat dieser Laden ein Vermögen gekostet.«
»Sie kennen nicht zufällig Terranis, oder?«, fragte Nyx halblaut.
Devon warf ihr einen warnenden Blick zu, doch sie zuckte nur mit den Schultern.
»Entschuldigen Sie, aber ich habe die Frage nicht verstanden.«
Nyx stocherte in ihrem Essen herum. »Nicht so wichtig.«
»Kein Wunder, dass Garreth Sie nicht leiden kann.«, sagte Sethi.
»Nicht wahr?« Joana lächelte kalt. »Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass seine eigene Schwester genau das darstellt, was er all die Jahre so verbissen bekämpft hat. Die Wurzel alles Bösen, der Teufel in Person. In seinen Augen bin ich so etwas wie ein Warlord.«
»Was Sie machen, ist krank.« Nyx spie den Satz wie etwas Ungenießbares aus.
Diese spontane Entladung aus Wut und Abscheu wollte nicht zur Situation passen. Devon hatte das Gefühl, der Ausbruch würde nicht allein Joana gelten. Es schien sich etwas in Nyx aufgestaut zu haben, das jetzt überquoll und in der Schwester von Garreth ein passendes Ziel fand.
»Womöglich.« Joana ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und schob sich einen winzigen Happen zwischen die Zähne. »Aber ich habe früh gelernt, dass diese Welt schon vor meiner Geburt krank war und vermutlich auch nach meinem Tod noch sein wird. Dementsprechend habe ich mich ihr nur angepasst, im Gegensatz zu Garreth, der mit aller Kraft dagegen angekämpft und dadurch alles verloren hat.«
»Er will Gerechtigkeit.« Nyx fuchtelte mit dem Messer herum. »Sie aber helfen denen, die keine Hilfe verdienen.«
»Gehen Sie vorsichtig mit diesem Wort um.« In Joanas Augen blitzte es auf. »Gerechtigkeit ist relativ, etwas sehr Wandelbares, das sich jedem anders darstellt, je nachdem, welchen Blickwinkel man einnimmt.«
Sie wirkte abgehärtet von Stunden ähnlicher Diskussionen mit ihrem Bruder. Die Wut von Nyx fand kein Ziel, prallte an ihr ab wie an einem Schild. Das Zucken in ihrem Gesicht verriet Devon, dass da noch viele andere Emotionen mitschwangen, die nichts mit Joana zu tun hatten. Nyx ließ Gabel und Messer auf dem Teller zurück und stand auf.
»Danke für das Abendessen.«, sagte sie und selbst der Dank in ihren Worten klang respektlos. Sie wich Devons Blick aus, fokussierte Joana. »Ist der Frameanschluss sicher?«
Joana gab sich keine Blöße und antwortete, als würde sie mit einem aufgebrachten Kunden sprechen. »Er wird über mehrere Satelliten geleitet und verfügt über eine 1028-Bit-Verschlüsselung.«
»Kann ich die Zonebox nutzen?«
»Alles, was Sie in Ihrem Zimmer finden, steht zu Ihrer freien Verfügung.«
»Gut.« Nyx drehte sich um und ging. Morgan folgte ihr.
Joana blickte in die Reihe der Gäste. »Möchte noch jemand der Anwesenden über mich urteilen oder wollen wir weiter dinieren?«
Nor schaufelte eine Ladung nach der anderen auf seinen Teller und aß mit dem Appetit eines halbverhungerten Wolfs.
»Was ist mit Ihrem Personal?«, fragte Sethi. »Wie können wir sicher sein, dass es uns nicht verraten wird?«
»Keine Sorge, selbst wenn sie die Wahrheit über Sie alle wüssten, würden sie es nicht wagen.« Joana strahlte vor Selbstbewusstsein. »Schon vergessen, meine Spezialität ist es, Probleme aus der Welt zu schaffen.«
»Haben Sie denn gar keine Fragen an uns?«, fragte Sethi.
Es schwang gerade genug Misstrauen in ihrer Stimme mit, dass es Joana bemerkte. Sie führte einen Bissen zwischen ihre Zähne und kaute dann genüsslich. »Nein, je weniger ich weiß, desto besser. Aber ich kann durchaus eins und eins zusammenzählen. Wenn sich mein Bruder mit Ihnen zusammengetan hat, handelt es sich zweifellos um eine selbstmörderische Aktion, deren Zweck einzig der Gerechtigkeit dienen kann.«

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