Expansum

Cyberpunk-Roman
(2016) 

„Auch der zweite Teil der Terranis Reihe hat alles was es braucht, um Fans des dystopischen Cyberpunks zu fesseln.“ – Rezensent

Band Zwei von Terranis

4,5 Sterne Bewertung 4,4 von 5

Eine kaltblütige Intrige brandmarkt Devon in den Augen der Weltöffentlichkeit als erbarmungslosen Mörder einer Gruppe harmloser Zivilisten. Er wird im Hochsicherheitsgefängnis des Sanctums weggesperrt und verliert immer mehr die Hoffnung – allein Detective Walker glaubt an seine Unschuld und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln: Er macht sich auf den Weg nach City One zu einem früheren Mitglied des aufgelösten Ghostteams, da ihm sein Instinkt sagt, dass Devon nur in seinem engsten Umfeld verraten worden sein konnte.

Unterdessen hat sich Nyx von ihrem Kräftemessen mit der überlegenen künstlichen Intelligenz Ree erholt und tritt ihrem geheimnisvollen Schöpfer Phobos in einer selbsterschaffenen Zone gegenüber. Er hat endlich ein paar Antworten auf ihre bohrenden Fragen zu Hort 33, warnt sie aber zugleich eindringlich vor den Hintermännern. Als sie seine Warnung auf die leichte Schulter nimmt, findet Nyx sich bald in einer ausweglosen Situation wieder, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint …

Terranis – Der gesamte Zyklus

Christian Paul Autor Cyberpunk Roman Terranis 1 Buchcover Incubatio 200x309
Christian Paul Autor Cyberpunk Roman Terranis 2 Buchcover Expansum 200x309
Christian Paul Autor Cyberpunk Roman Terranis 3 Buchcover Mutatio 200x309
Christian Paul Autor Cyberpunk Roman Terranis 4 Buchcover Metamorphosis 200x309
Christian Paul Autor Cyberpunk Roman Terranis 5 Buchcover Homo Novus 200x309

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Kapitel 1 (Gesamter Text)

1 – Meister des Krieges

Zelle 4 im Sanctum – City One

Drei Tage waren vergangen, seit man Major Devon Reeves in einer verlassenen Fabrik bei London festgenommen hatte. Er wurde beschuldigt, acht unschuldige Menschen, darunter vier Kinder, durch rücksichtsloses Verhalten im Einsatz getötet zu haben. Jemand hatte sich so große Mühe gegeben, seinen Ruf unter Unmengen von Blut, Innereien und Knochen zu begraben, dass er schon jetzt im Sterben lag.
Er war nun also Gefangener des Rates. Viel schwerer wog allerdings, dass er gleichzeitig Gefangener seiner eigenen Gedanken war. Er lag auf dem schmalen Bett einer karg ausgestatteten Zelle im Sanctum und starrte an die Decke. Kaltes Licht aus Leuchtstoffröhren füllte das moderne Verlies gleichmäßig aus und verscheuchte auch den letzten befreundeten Schatten. An diesem Ort besaß die Welt keinerlei Kontrast. Nur die pure Essenz seines Daseins blieb übrig. Alles, selbst seine Gedanken, war auf einen einheitlichen Grauton heruntergeregelt. Sogar die Töne schienen im synthetischen Licht verloren zu gehen, dass Devon den eigenen Atem mit belastender Deutlichkeit vernahm, als würde ihm ein Fremder ständig ins Gesicht atmen. Licht und Tonlosigkeit saugten jede Bedeutung und jegliches Zeitempfinden aus der Welt.
Devon verschränkte seine Arme hinter dem Kopf, während seine Augenimplantate wie deaktiviert auf die Decke gerichtet waren. Drei Tage war es her, dass er in die Falle der Unbekannten getappt war und seine Situation hatte sich seither nicht zum Besseren gewendet. Komplett von der Außenwelt abgeschnitten blieben ihm nur seine Gedanken und die Bilder der toten Zivilisten, für deren Ableben man ihn verantwortlich machte. Bei den Untersuchungen hatte sich herausgestellt, dass die beiden Familien in der Fabrik mit seiner Einsatzwaffe getötet worden waren. Die Projektile, die man aus den Leichen entfernt hatte, waren zweifellos aus seiner Waffe abgefeuert worden. Der eigentliche Schock war aber erst entstanden, als man Devon die extrahierten Aufzeichnungen seiner Implantate vorgeführt hatte. Zu Beginn hatte alles wie in seinem Gedächtnis ausgesehen. Er hatte die Umgebung der Fabrik beobachtet, war dann zur Seitentür gerannt und hatte schließlich das Gebäude gestürmt. Was er allerdings danach zu sehen bekommen hatte, war mit der ungebremsten Wucht einer Detonation mit seinen eigenen Erinnerungen kollidiert, dass Devon für lange Zeit erstarrt war.
Die Videoaufzeichnung zeigte aus seiner Egoperspektive, wie er das Feuer auf die bewaffneten Rebellen eröffnete. Nur lebten die Zivilisten zu diesem Zeitpunkt noch. Er sah sich selbst dabei zu, wie er ohne Rücksicht auf ihr Leben kämpfte. In dem Video schrie er auch keine Warnungen, sondern schlachtete die Angreifer sofort ab als würde es ihm Freude bereiten. Die beiden Familien gingen an seiner verabscheuungswürdigen Rücksichtslosigkeit zu Grunde. Devon wusste nicht, wie die Verantwortlichen hinter dieser Verschwörung es geschafft hatten, die Daten seiner Implantate so umfassend zu manipulieren, aber sie waren der zweite und noch wirksamere Beweis für seine Schreckenstat.
Danach hatte man ihn immer und immer wieder verhört. In endlosen, zermürbenden Befragungen hatte man ihm ein Geständnis abringen wollen. Doch Devon war bei seiner Geschichte geblieben, hatte mit der Ausdauer eines Veteranen die Wahrheit erzählt und von einer Verschwörung gesprochen. Er würde sich nicht für ein Verbrechen verantworten, das er nicht begangen hatte. Die Beharrlichkeit der polizeilichen Verhörexperten hatte sich an seiner Willenskraft die Zähne ausgebissen. Aber alle seine Worte und Beteuerungen waren unter der Beweislast wie Streichhölzer zusammengebrochen.
Niemand glaubte ihm.
Die Versuche des Rates und von Cardoso, die Sache zu vertuschen, scheiterten letztlich an einer Informationslücke. Devon wusste nicht, ob die Polizei selbst die Videos an die Medien durchsickern hatte lassen oder ob auch hier die Verantwortlichen hinter der Verschwörung ihre Finger im Spiel gehabt hatten. Er tippte auf die Verschwörer, aber es machte ohnehin keinen Unterschied. Tatsache war, dass alle Welt seine angebliche Bluttat mit eigenen Augen sehen konnte. Und was die leichtgläubigen Menschen in den Weiten des Frames sahen, galt ihnen als Wahrheit. Das war allerdings nur der erste Schritt in der erschreckend effektiven Kampagne, den frisch gebackenen Helden des Rats zu vernichten. Die ganze Situation hätte sich womöglich gerade noch bereinigen lassen, wäre der finale Schlag für sein Image nicht von einer anderen Seite gekommen.
Blackhammer.
Die Journalisten hatten sich wie ein Schwarm Fliegen auf die Vergangenheit des Schlächters gestürzt. Am Ende war es aber eine unbekannte, junge Journalistin, die die Welt mit einer Offenbarung schockierte, die Devon endgültig das Genick brach. Sie grub eine Geschichte aus den schwarzen Untiefen seiner Vergangenheit aus, von der er bereits geglaubt hatte, sie endlich losgeworden zu sein. Auf schmerzvolle Weise hatte er erkennen müssen, dass die Vergangenheit einen immer einholte, egal wie schnell man vor ihr davonrannte oder wie hart man daran arbeitete, sie zu begraben.
Während sich das erbarmungslose Weiß der Deckenbeleuchtung in seine Cyberaugen brannte, fand er sich plötzlich in Afrika in einem Truppentransporter an der Seite seiner Kameraden von Blackhammer wieder. Zwölf Söldner saßen sich in zwei Reihen mit je sechs Sitzen gegenüber, in denen sie festgeschnallt auf die Landung des massiven Transportgleiters warteten. Die Stimmung war angespannt aber optimistisch, alle erwarteten eine erfolgreiche Jagd, ein schnelles Abenteuer und einen Einsatzbonus für das eigene Konto. Es wurde gescherzt, gelacht und der eine oder andere markige Spruch abgelassen, um die Anspannung zu vertreiben. Zwei Kameraden unmittelbar neben Devon debattierten darüber, welche Waffe besser für den Wüsteneinsatz geeignet war. Spezifikationen und Erfahrungsberichte flossen in die Diskussion mit ein, bis das Gespräch in einen handfesten Streit überging.
Devon überprüfte gerade zum letzten Mal sein Sturmgewehr.
»Beschissener Sand.«, fluchte einer seiner Kameraden vor ihm und kratzte sich ausgiebig am Gesäß. »Verfängt sich in jeder Ritze.«
»Bei deinem haarigen Arsch kein Wunder.«, scherzte ein anderer.
Alle lachten, nur Devon war in die Inspektion seiner Waffe vertieft.
Private Wicker, die kräftige Frau mit den aggressiven Gesichtszügen an seiner Seite, stieß ihn mit dem Ellbogen an.
»Hey, Sarge.«, sagte sie und grinste herausfordernd. In ihren Augen funkelte die Mordlust und der ständige Wille, sich zu messen. »Angst, dass Sie nicht genügend Abschüsse zusammen bekommen?«
Auf ihrem schwarzen Helm waren mit weißer Farbe die Tötungen wie Kerben eingezeichnet.
»Habe nur keine Lust, unbewaffnet dazustehen.«, gab Devon zurück.
Die Frau holte ein Kampfmesser hervor und betrachtete es, als wäre es eine besondere Reliquie. Ein schräges Grinsen hing ihr im Gesicht.
»Schiss?«, fragte sie. »Dann bekommen die Bastarde eben die Klinge zu spüren.«
Devon antwortete nur mit einem distanzierten Lächeln.
»Wicker hat sicher auch ein Messer in ihrer Muschi versteckt.«, grinste Private Sotelo gegenüber.
Er fixierte die Frau, bis sein Blick jäh abschweifte und anzüglich ihre Einsatzmontur entlang streifte. Sie ließ die Musterung souverän über sich ergehen und reagierte dann mit betontem Desinteresse: »Was ich in meiner Muschi verstecke, wirst du nie erfahren, Frog.«
Private Sotelo war der kleinste Mann in der ganzen Einheit und hatte gleichzeitig das größte Mundwerk, was ihm den Spitznamen Frog eingebracht hatte. Wieder einmal bewies er, dass er ihn nicht zu Unrecht trug. Er präsentierte seine Zunge und bewegte sie zwischen seinen Zähnen.
»Du weißt, ich hab eine flinke Zunge, würde dir bestimmt Spaß machen.«, sagte er augenzwinkernd.
Der kräftigere Pisani lehnte sich zu Sotelo, ohne Wicker aus den Augen zu lassen.
»Hab gehört, Wicker wird immer feucht, wenn sie Maschinengewehrfeuer hört.«
Die beiden Männer warfen der Söldnerin dreckige Blicke zu, die sie mit einem mitleidigen Lächeln parierte.
»Ich mag es eben romantisch.«, entgegnete sie lässig. »Liegt wohl daran, dass Maschinengewehrfeuer hier das einzig Männliche ist.«
»Pah.«, grunzte Pisani. »Du weißt doch gar nicht, was du verpasst.«
»Einen vorlauten Gnom und einen hirnlosen Muskelhaufen?«, fragte sie und stieß dabei ein raues Lachen aus. »Was genau soll ich da verpassen?«
»Hey Wicker, wie wäre es mit einem Deal.«, schlug Sotelo vor. »Derjenige von uns, der heute die meisten Abschüsse macht, darf dir später ein wenig zur Hand gehen.«
»Ach wie schade.«, gab sie traurig zurück. »Wird heute also wieder eine Solopartie.«
»Passt besser auf.«, warf Devon ein. »Private Wicker hat Reißzähne zwischen den Beinen. Sie würde euch schneller kastrieren, als ihr nach euren Mamas schreien könnt.«
»Hört euch das an, der Sarge spricht wohl aus Erfahrung.«, grinste Pisani.
»Der Sarge ist ja auch schon erwachsen.«, sagte Wicker und tauschte einen raschen Blick mit Devon. »Aber keine Sorge, Jungs, wenn euch erst einmal Haare da unten gewachsen sind, werdet ihr das auch verstehen.«
Sotelo und Pisani gaben resigniert auf und seufzten.
»Der Sarge überlässt nichts dem Zufall, wie?«, sagte Sotelo.
»Da haben Sie verdammt Recht, Private.«, antwortete Devon.
Ein Rumpeln ging durch den Gleiter, was aber niemanden weiter störte. Sie waren schon inmitten von feindlichem Abwehrfeuer mehr abgestürzt als gelandet und hatten es überstanden. Für die hartgesottene Truppe von Blackhammer war es nicht der erste Einsatz, aber für viele würde es der letzte sein. Mit seinen achtundzwanzig Jahren war Devon bereits ein Veteran und hatte zehn Jahre Einsatzerfahrung vorzuweisen.
»Dieses verfluchte Land ist die reinste Hölle.«, grunzte der kräftige Pisani und wischte sich den Schweiß von der Stirn, obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren lief. »Es ist, als hätte sich der Teufel zum Scheißen hingekniet und dabei Afrika ausgeschissen.«
»Ja, Captain, warum kämpfen wir immer auf diesem gottverlassenen Kontinent?«, fragte ein anderer.
»Weil es Ihr Job ist, Private.«, gab der alte Captain zurück. Er hatte ein künstliches Auge, das so aussah, als würde er eine Augenklappe tragen. Zusammen mit einer großflächigen Narbe im Gesicht wirkte er wie ein moderner Pirat.
»Erwartet uns wenigstens ein bisschen Action?«, fragte Sotelo.
»Sie kennen die Mission, Private Frog.«, kam die Antwort mit harter Stimme. »Wir werden ein Gebiet von rebellischen Besetzern säubern. Mehr müssen Sie nicht wissen.«
Wie immer hatten sie nur das Nötigste an Information bekommen, um den Einsatz durchführen zu können. Niemand stellte Fragen nach dem Warum oder dem Wie, die Befehle waren eindeutig. Söldner von Blackhammer zu sein bedeutete, strikt den Missionsparametern zu folgen und diese möglichst nicht zu hinterfragen.
Die Lichter innerhalb des Gleiters schalteten plötzlich auf Rot. Alle sahen gleichzeitig auf. Es war das Zeichen, dass sie in Kürze landen würden.
»Macht euch bereit.«, brüllte der Captain.
Gespräche verstummten jäh und auch das letzte Lachen verklang. Die Leichtigkeit der vergangenen Stunden wich der Konzentration vor dem Einsatz. Waffen wurden entsichert, Helme geschlossen und Ausrüstungsteile überprüft. Die Halterungen der Sitze lösten sich. Nacheinander standen die Söldner auf und bildeten zwei Reihen.
»Männer und die, die es noch werden wollen, ihr wisst, was uns erwartet.«, befahl der Captain und sah jeden einzelnen seines Trupps an. »Wenn heute niemand draufgeht, gibt es eine Prämie für alle, also lasst euch nicht abknallen!«
Der Transporter setzte mit einem harten Ruck auf und das hintere Tor schwang auf. Sie stürmten nach draußen in die Hitze und gingen in Position. Ein zweiter Transportgleiter spie einen weiteren Trupp Söldner aus. Zusammen waren sie fünfundzwanzig Mann. Späher wurden vorgeschickt, um die Lage zu sondieren. Erst als sie grünes Licht gegeben hatten, marschierten die beiden Trupps unter der Führung zweier Lieutenants und des Captains voran. Gemeinsam stapften sie durch den glühenden Sand. Devon konnte die Hitze durch die Stiefel hindurch spüren. Er glaubte auf einem Grill herumzulaufen. In der Ferne waberte die Luft, als würde die Welt vor seinen Augen schmelzen.
Die Gruppen überwanden eine Düne, hinter der ein kleines Tal lag. Es mochte einmal eine Oase gewesen sein, von der die Wüste aber nicht viel übrig gelassen hatte. Vertrocknete Pflanzen und Palmen saugten die letzten Tropfen aus einem schmalen Flussbett. Alles glühte in unterschiedlichen Rot- und Brauntönen.
Devon interessierte sich nur für die Bewohner der ehemaligen Oase. Er war nicht der Einzige, der überrascht war, als sie sich vor einem weitläufigen Lager wiederfanden. Devon machte eine schnelle Bestandsaufnahme und schätzte die Einwohnerzahl auf etwa zweihundert Personen.
»Bleibt wachsam.«, sagte der Captain. »Tangos können sich hier verstecken.«
Sie marschierten voran, alle Sinne auf das Äußerste geschärft. Jeder erwartete einen plötzlichen Angriff. Doch je weiter sie sich dem Lager näherten, desto stärker zweifelte Devon an einer Gegenwehr. Rund um die Reste des Flussbetts hatte sich eine Miniatursiedlung aus löchrigen Zelten und provisorisch zusammengebauten Hütten gebildet, die der lebensfeindlichen Wüstenlandschaft trotzte. Das schmutzige Wasser war die Lebensader der Einwohner und hielt die Wüste beharrlich auf Abstand. Nichts deutete auf die Anwesenheit von rebellischen Besetzern hin. Als auch der Captain das eingesehen hatte, gab er den Befehl zum Senken der Waffen. In loser Formation aber immer noch wachsam marschierte der fünfundzwanzigköpfige Trupp von Blackhammer durch das Lager, gefolgt von den müden Blicken der Ansässigen. Devon sah das Leid der Menschen an ausgezehrten Kinderleibern und verzweifelten Eltern, die ihrem Nachwuchs beim Hungern zusehen mussten. Fliegen umkreisten die kleinen Körper, als wüssten sie, dass es bald Nahrung für sie geben würde. Ein furchtbarer Gestank hing über dem Flüchtlingslager und verstopfte die Nebenhöhlen. Die Luft atmete sich wie Gift.
Noch nie in seinem Leben hatte Devon so viel Armut und so viel Leid an einen Ort verdichtetet gesehen. Falls es einen Gott gab, war selbst ihm dieses Plätzchen Erde zu elend und zu heiß. Devon kannte den Tod schnell, laut und kräftig, doch hier hatte er ein vollkommen fremdes Gesicht. Er ähnelte einer Seuche, langsam, grausam und alles andere als spektakulär. Devon verstand nicht, was sie hier taten, was der Auftrag war und er war nicht der Einzige, dem es so ging.
»Hey Captain, was wollen wir hier eigentlich?«, fragte eine der Frauen in ihrem Trupp.
Captain Woods, ein stoischer Mann, der Gefühle nur als abstraktes Konzept zu kennen schien, zog eine noch düstere Grimasse als sonst. Die Ratlosigkeit zog tiefe Gräben in sein alterndes Gesicht.
»Das frage ich mich auch.«, brummte er mehr zu sich selbst als zu seinen Soldaten.
Er setzte sich zusammen mit den Lieutenants der zwei Trupps ein Stück weit ab und kontaktierte die Blackhammer-Zentrale. Devon sah ihnen nach, konnte aber nicht verstehen, was sie sprachen. Sein siebenter Sinn teilte ihm mit, dass hier etwas faul war. Ein Gefühl, das immer wieder in Einsätzen ansprang wie eine verborgene Zusatzfunktion. Er hatte gelernt, auf dieses Gefühl zu hören, als wüsste sein Körper zuweilen mehr als sein Verstand.
»Hey, Sarge.«, sagte Sotelo und trat an Devon heran. »Glauben Sie, wir sind irgendwo falsch abgebogen oder so?«
»Ich habe keine Ahnung.«, antwortete er und verfolgte, wie sich die ranghöheren Offiziere aufgeregt miteinander unterhielten.
»Das ist vielleicht ein Drecksloch.«, verkündete Private Pisani und stapfte mit zornigen Schritten an ihnen vorbei. Er rümpfte die Nase und machte einen angewiderten Eindruck.
Die Flüchtlinge beäugten die anwesenden Söldner zwar kritisch, waren aber allem Anschein nach absolut harmlos. Sie sahen auch nicht aus, als würden sie sich mit ihren ausgezehrten Körpern großartig verteidigen können. Die meisten von ihnen waren in Lumpen gehüllt, manche Kinder rannten sogar nackt herum.
Devon spürte die um sich greifende Ungeduld seiner Kameraden. Ihm ging es nicht anders. Sie alle hatten einen Kampf erwartet und jetzt schwitzten sie bloß unter der brennend heißen Sonne.
»Kacke Mann, mir läuft die eigene Suppe schon in den Arsch!«, fluchte jemand neben Devon, doch er hörte nicht hin. Er beobachtete, wie sich der Captain und die zwei Lieutenants mit den Bewohnern des Lagers unterhielten.
Er fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Wenn er es richtig interpretierte, suchten sie nach einem Verantwortlichen.
»Die Sache stinkt.«, sagte Sotelo. »Und ich meine nicht den Gestank hier.«
»Als hätte einem jemand direkt ins Gesicht geschissen.«, fügte Private Wicker hinzu. »Abartig.«
Sie hatte den Helm abgenommen, wodurch ihre himmelblauen Haare zum Vorschein kamen, die sie quer über den Kopf gekämmt hatte. Die Frisur begann auf der linken Seite knapp über dem Ohr und endete auf der rechten Seite in Höhe des Halses. Der Rest war komplett geschoren.
»Private, wer hat Ihnen die Erlaubnis erteilt, den Helm abzunehmen?«, fragte Devon.
Sie fuhr sich durch das Haar, den Helm unter der linken Achsel tragend und blitzte ihn spöttisch an.
»Ach kommen Sie, Sarge.«, stöhnte sie. »Es ist verschissen heiß hier. Wird schon niemand auf mich schießen.«
»Aufsetzen!«, befahl Devon, der kein Interesse daran hatte, von seinem Lieutenant oder gar dem Captain persönlich eine Standpauke zu bekommen, nur weil jemand in seinem Team glaubte, sich wie ein Idiot verhalten zu müssen. Ein Rang war schnell aberkannt und Devon hatte auch nicht vor, auf den damit verbundenen höheren Sold zu verzichten.
Wicker verdrehte die Augen und setzte den Helm wieder auf.
»Ist ja schon gut.«
Devon bemerkte erst nach einer Weile, dass unmittelbar neben ihm ein kleines Mädchen stand und ihn mit großen Augen anstarrte. Aus ihrer Perspektive musste er wie ein Riese wirken. Die Kleine trug ein vergilbtes Kleid mit ausgebleichtem Blumenmuster. Auch wenn ihr dunkelhäutiges Gesicht vom Hunger gezeichnet war, war ihr Blick aufgeweckt. Angst hatte sie offensichtlich keine vor ihm. Devon erwiderte ihren interessierten Blick für eine Weile, ohne etwas zu sagen.
»Hey Sarge, Sie haben wohl eine neue Freundin gefunden.«, lachte Wicker ein paar Meter hinter ihm. »Noch ein bisschen jung, meinen Sie nicht?«
Devon sah in die dunklen Augen, die noch so viel zu sehen hofften und erinnerte sich für einen kurzen Augenblick an seine Schwester. Wie ein brennend heißes Stück Eisen ließ er die Erinnerung fallen, bevor sie ihn emotional verbrennen konnte. Der Moment zog sich in die Länge, da er nichts mit dem Kind anzufangen wusste. Sollte er sie einfach verscheuchen? Plötzlich kam ihre Mutter wild gestikulierend gelaufen, schnappte sich das Mädchen, warf Devon einen wütenden Blick zu und verschwand, als hätte er sie unsittlich berührt. Er war froh, von dem kleinen Plagegeist befreit worden zu sein.
Zugleich kehrten der Captain und die Lieutenants zu ihren Trupps zurück.
»Wie sieht es aus, Captain?«, fragte Sotelo.
»Wenn Sie Ihr vorlautes Maul nicht ständig offen hätten, Private Frog, könnten die Erwachsenen auch einmal etwas sagen.«, knurrte der Captain. »Männer …«
Er sprach seine Truppen prinzipiell mit Männer an, egal ob Frauen seinem Kommando unterstanden oder nicht. Für ihn waren sie alle Männer, egal welche Geschlechtsteile sie in ihren Hosen herumtrugen. Es gab keine Sonderbehandlung, jeder musste seinen Job erledigen.
»Overlord hat uns den Befehl gegeben, dieses Lager zu räumen.«, erklärte er. Seine Worte wurden über Funk an jeden einzelnen Soldaten übermittelt. »Die Leute sind hier auf Firmengrund und müssen entfernt werden. Wir haben versucht, uns mit ihnen zu einigen, aber sie weigern sich zu gehen. Das bedeutet, wir werden ihnen ein bisschen Angst einjagen und sie von hier vertreiben. Kein Einsatz von Schusswaffen bis ich es ausdrücklich befehle, ich wiederhole, kein Einsatz von Schusswaffen bis ich es ausdrücklich befehle.«
Sotelo warf Devon einen vielsagenden Seitenblick zu. Die Lieutenants teilten sich auf ihre Trupps auf und gaben weitere Befehle. Eine einzelne, schwarze Reihe aus Blackhammer-Söldnern wurde gebildet, die sich grob an der Breite des Lagers orientierte. Gemeinsam marschierten sie los. Wer von den Besetzern nicht freiwillig ging, wurde gestoßen oder geschlagen. Vereinzelte Sturköpfe zerrten sie aus den Hütten und Zelten. So trieben sie die Bewohner dieser sterbenden Oase vor sich her und zerstörten dabei ihre kläglichen Unterkünfte.
»Für diese Scheiße kriegen wir zu wenig Geld.«, sagte Sotelo und machte neben Devon ein unglückliches Gesicht.
Devon wusste, dass er trotz seines losen Mundwerks ein guter Mann war. Er hatte Frau und Kind in Spanien, um die er sich liebevoll kümmerte, wenn er von den Einsätzen nach Hause kam. Doch Blackhammer vertrat die Interessen eines Kunden und wenn sich diese Leute zu Unrecht auf diesem Stück Land aufhielten, mussten sie entfernt werden.
Pisani sprach aus, was Devon dachte.
»Hätten nicht auf Firmengrund campen dürfen.«
Sotelo, der gegen den kräftigen, mit Implantatarmen verbesserten, Pisani wie ein Zwerg wirkte, schüttelte nur den Kopf.
»Hier ist doch nur Sand und ich sehe nirgends ein Firmenlogo.«
»Du redest zu viel, Sotelo.«, mischte sich nun auch Wicker ein. Sie marschierte auf der anderen Seite von Sotelo.
»Haltet alle die Klappe und macht euren Job!«, befahl Devon. »Wir haben eine Mission zu erfüllen, ob sie euch gefällt oder nicht. Dafür bekommt ihr euer Geld.«
Sie trieben immer mehr Bewohner vor sich her, ohne einen einzelnen Schuss abzugeben. Doch irgendwann kam der Moment, da der Marsch von Blackhammer ins Stocken geriet. Wo sie zuvor nur vereinzelte, sture Flüchtlinge gewaltsam zum Weitergehen bewegen hatten müssen, wehrten sich nun mehr und mehr dagegen, wie Tiere fortgejagt zu werden. Devon hatte plötzlich das Gefühl, durch eine zähflüssige Masse aus Gestank und menschlichen Leibern zu waten. Schon bald mussten sie jedem einzelnen Bewohner mit Gewalt beikommen, was ihr Vorankommen deutlich erschwerte.
Die Söldner von Blackhammer schrien ihre Warnungen über das Lager hinweg, zerstampften Zelte und demolierten Hütten, doch je mehr Druck sie ausübten, desto stärker wurde die Gegenwehr. Devon verstand das nicht. Diese Menschen mussten doch einsehen, dass sie gegen die bewaffneten Einheiten von Blackhammer keine Chance hatten. Wieso also sich wehren, wieso sich schlagen lassen? Niemals hätte er mit einer solchen Hartnäckigkeit gerechnet.
Private Wicker trat gerade einen am Boden seines Zelts sitzenden alten Mann mit Füßen und wollte ihn dadurch zum Gehen bewegen. Seine Haut wirkte verdorrt und trocken, als hätte die Sonne jegliche Elastizität aus ihr herausgebrannt.
»Beweg dich!«, schrie sie ihn an.
Er steckte die Tritte ein wie ein morsches Blatt, das im Wind hin und her schaukelte. Er starrte einfach an ihr vorbei, als würde ihn die Sache nicht im mindesten interessieren. Wicker trat ihn einige Male wie einen Straßenhund, imponierte dem Alten damit aber nicht.
»Ich knall dich ab, wenn du deinen Arsch nicht auf der Stelle bewegst, alter Mann.«
Wicker richtete den Lauf ihres Sturmgewehrs auf den Kopf des Mannes. Devon hatte ihr Gesicht noch nie so angespannt gesehen. Unbeeindruckt von ihrer Drohung setzte er seinen stillen Widerstand fort, die Augen starr geradeaus gerichtet.
»Bring dem alten Knacker endlich Manieren bei!«, zischte Pisani ein Stück weiter vorne und trat gerade eines der Zelte in seine Einzelteile.
In diesem Moment riss der Geduldsfaden der jungen Soldatin. Sie drehte die Waffe herum und schlug mit dem Kolben mehrmals auf den Alten ein.
»Ich hab dir gesagt, du sollst dich bewegen!«, fluchte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen.
Mehrfach ließ sie den Gewehrkolben auf den Kopf des Mannes niederfahren. Dieser hob nur die Hände, um sein Gesicht zu schützen. Kein einziger Schmerzensschrei entkam seiner trockenen Kehle. Sein stiller Widerstand stoppte den Vormarsch von Blackhammer endgültig. Als ob er den anderen Menschen zeigen würde, dass es mehr Möglichkeiten gab als nur zu fliehen, blieben alle Flüchtlinge stehen. Immer mehr Einwohner sahen, was geschah und mit den Schlägen schien etwas in ihnen entfacht zu werden. Anstatt sich weiter wie Vieh davontreiben zu lassen, wandten sie sich gegen ihre Peiniger, die Gesichter zu wütenden Fratzen verzerrt.
»Private Wicker.«, rief Devon, dem die veränderte Situation nicht entgangen war. Doch sie war wie im Rausch und schlug immer weiter auf den alten Mann ein.
Etwas flog durch die Luft. Wicker wurde im Gesicht getroffen. Der scharfkantige Stein zog eine blutige Spur über ihre linke Wange. Erschrocken hielt sie in ihren Schlägen inne und berührte die Wunde. Schreie gellten durch das halb eingerissene Lager. Die Stimmen von über hundert verzweifelten Frauen, Männern und Kindern brachten die Luft zum Vibrieren. Dann brach das Chaos über die Söldner von Blackhammer herein. Immer mehr Flüchtlinge bewarfen sie mit Gegenständen. Von überall in der geordneten Reihe von Blackhammer kamen Meldungen über die aggressive Reaktion der Bewohner.
»Treibt sie zurück.«, schrie der Captain und schoss mit seinem Gewehr in die Luft.
Er hatte gehofft, die wütende Meute damit aufzuschrecken, was ihm auch für einen kurzen Augenblick gelang. Doch jemand in der Reihen von Blackhammer hatte den Schuss als Erlaubnis für den Waffengebrauch fehlinterpretiert. Eine Salve traf eine Gruppe Einwohner und tötete zwei von ihnen auf der Stelle, weitere wurden verletzt.
»Nicht schießen!«, brüllte der Captain entsetzt, doch es war zu spät.
Angefeuert von dem heimtückischen Angriff auf ihr Leben wurden die Flüchtlinge zu einer rasenden Horde Wilder. Mit der Entschlossenheit von Menschen, deren persönliches Leid eine Grenze überschritten hatte, gingen sie auf den Trupp von Blackhammer los. Was sie zwischen die Finger bekamen, nutzten sie als Waffe gegen die Invasoren. Devon musste zwei Männer, die ihn mit Stöcken attackierten, abwehren, indem er sein Gewehr als Schlagwaffe einsetzte. Er erkannte in ihren Augen den alten Instinkt von in die Ecke gedrängten Tieren, die keine andere Wahl mehr hatten als zu kämpfen.
Ein paar der Einwohner konnte Devon durch sein Training und seine Kraft zurückschlagen, doch es griffen ständig mehr an. Weit in der Unterzahl wurde es schnell kritisch für die Söldner von Blackhammer. Immer wieder schoss jemand. Der Funk war ein Gewirr aufgeregter Stimmen, die um Feuerbefehl baten, dazwischen das Brüllen des Captains, der zum geordneten Rückzug aufforderte. Devon wurde von mehreren Flüchtlingen bedrängt, die sich ohne Rücksicht auf ihr Leben auf ihn warfen. In ihren zornig geweiteten Augen erkannte er unbändigen Überlebenswillen. Er bekam einige Treffer am Kopf ab, wehrte sich aber verbissen und teilte wüste Schläge aus.
»Sie haben Private Lakes erwischt.«, schrie jemand im Funk.
Von mehreren Seiten kamen Hilfeschreie. Devon sah, wie der kleine Sotelo von einer Gruppe Männer bedrängt wurde. Er konnte ihm nicht helfen, da er selbst alle Hände voll zu tun hatte.
»Feuer! Erschießt sie!«, schrie plötzlich jemand in den Köpfen der Blackhammer-Söldner. »Erschießt sie alle!«
Es war die Stimme eines Lieutenants, der die Nerven verloren hatte. Da seine Worte in den Empfangsgeräten lauter erklangen und die beschwichtigende Stimme des Captains im Rattern der Gewehrsalven unterging, empfanden sie die bedrängten Soldaten als eindeutigen Befehl. Der schwarz gekleidete Trupp schnitt mit seinen Waffen eine Schneise durch die Reihen der Flüchtlinge. Schmerzensschreie erfüllten die aufgeheizte, stickige Luft. Der Captain hatte die Kontrolle verloren. Auch die letzten zögernden Söldner eröffneten jetzt das Feuer, um sich zu befreien.
Derselbe Mechanismus, der die Flüchtlinge zu ihrem selbstmörderischen Angriff verleitet hatte, ergriff nun auch von Devon Besitz. Die Menschlichkeit, sein ganzes Denken und sein Gewissen zogen sich an einen weit entfernten Ort zurück, degradiert zu stillen Beobachtern. Er wirbelte die Waffe herum, mit der er gerade noch Schläge ausgeteilt hatte und schoss dem ersten Bewohner zwischen die Augen. Der Treffer warf seinen Kopf zurück, ehe er wie eine leere Hülle zur Seite kippte. Den nächsten Angreifer stieß er zu Boden und jagte ihm eine Salve hinterher. Als er endlich wieder ein wenig Raum hatte, schwang er das Sturmgewehr herum und feuerte ziellos in die Reihen der Hoffnungslosen.
Die Geschehnisse der darauffolgenden Minuten gingen in einem Durcheinander aus Lärm und Empfindungen unter. Wie im Blutrausch mähten die Söldner jeden lebenden Flüchtling nieder. Frauen, Kinder, alte Männer, sie alle vergingen im Feuer der Waffen, selbst als der Widerstand längst gebrochen und die restlichen Einwohner auf der Flucht waren. Niemand wurde verschont. Wie automatische Zielcomputer nahmen sich die Söldner einen nach dem anderen vor.
Sieben Kameraden von Devon und mehr als zweihundert Zivilisten starben bei diesem ungleichen Kampf. Als die letzte Stimme über dem Lager verhallt war, setzte eine unerträgliche Stille ein. Eine Stille so dicht und schmerzhaft, dass sie einen Mann in den Wahnsinn treiben konnte. Selbst der Wind schwieg ob des entsetzlichen Gemetzels.
Langsam lichtete sich der blutrote Nebel des Krieges, der die Sicht und das Denken von Devon eingeengt hatte. Seine Augen sahen das Unbeschreibliche, doch sein Verstand vermochte es im ersten Augenblick nicht zu begreifen. Die Erkenntnis sickerte erst allmählich in seinen Verstand wie Blut in den sandigen Boden. In diesem Moment, als die Gewehrsalven verklungen waren, kehrten Gewissen und Menschlichkeit zurück, um über ihn zu richten. Devon spürte, wie die Waffe langsam aus seinen Händen glitt und auf den blutüberströmten Boden fiel. Sein Körper zitterte, als er das unvorstellbare Gemetzel vor sich sah. Selbst der kümmerliche Rest des Flusses hatte sich blutrot gefärbt. Prüfend stolperte sein Blick über die Leichenberge hinweg, auf der Suche nach Lebenszeichen, doch er fand nur Tod. Er sah ihn in leeren Kinderaugen, in den verzerrten Haltungen der Frauen und in den blutigen Leibern der Männer.
Neben Devon schoss sich Sotelo mit seiner eigenen Pistole ins Gesicht. Devon registrierte es am äußersten Rand seiner Wahrnehmung. Die Schüsse zweier weiterer Kameraden, die den Anblick ihrer Tat nicht ertrugen, hallten über das ausradierte Lager, ohne dass ihnen jemand Beachtung geschenkt hätte. Jemand schluchzte in der Nähe. Devon sah ein totes Mädchen vor sich auf dem Boden liegen, darüber den leblosen Leib eines Mannes, der versucht hatte, es mit seinem Körper zu schützen. Doch Kugeln interessierten sich nicht für Schuld oder Unschuld, sie unterschieden nicht zwischen Kindern und Erwachsenen. Genau so wenig wie sie alle an diesem Tag unterschieden hatten.

City One – Atlantik

Detective Garreth Walker saß im hintersten Teil der Bar und blies perfekt geformte Rauchringe in die Luft. Über der Theke hingen drei Bildschirme, auf denen ein Fußballspiel lief. Der Nachmittag war erst angebrochen und entsprechend wenig war noch los. Ein paar vereinzelte Gäste verirrten sich in die Bar, tranken und gingen wieder. Nur eine Gruppe von vier Männern verfolgte das Match auf den Monitoren.
Walker war erst vor ein paar Stunden in City One eingetroffen und hatte sich diese Bar am Fuße der Stahl- und Konststoffgebirge für das Treffen ausgesucht. Hierher kamen hauptsächlich Arbeiter, die im gewaltigen Bauch der schwimmenden Stadt ihren Pflichten nachgingen, schließlich konnte nicht jede Aufgabe von Bots übernommen werden. Sie waren diejenigen, die im Untergrund dafür sorgten, dass das Juwel City One funktionierte, während sich andere in den strahlenden Türmen und unter dem Blick der Sonne räkelten.
Unauffällig beobachtete Walker die Gruppe Männer am Tisch nebenan. Sie trugen Arbeiterkleidung und waren kräftig gebaut. Zwei von ihnen hatten massige Implantatarme für schwere Arbeiten. Sie waren ganz in das Spiel vertieft, unterhielten sich und fieberten lautstark mit, wenn es spannend wurde. Sie sahen aus, als wären sie gerade von einer langen Schicht gekommen, mit zerknitterten Gesichtern und schrundigen Händen. Wortlos schüttelte Walker den Kopf. In all den Jahrtausenden hatte sich nichts geändert. Die Welt hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die weniger Privilegierten als Fundament auszugießen, dass die Oberschicht bequem auf ihnen schreiten konnte. Hatten sich Herrscher, Despoten und Adelige früher in ihren Burgen, Festungen, Palästen und Türmen über ihre Untertanen erhoben, waren es jetzt Firmenbosse, Politiker und Lobbyisten, die über den einfachen Bewohnern thronten. Walker hatte nichts anderes erwartet. Die perfekten Postkartenansichten von City One waren nichts weiter als Teil einer ausgeklügelten Marketingkampagne. Der Rat verkaufte eine Idee von Gerechtigkeit, die der Realität nicht standhielt, nicht einmal in ihrem eigenen, schwimmenden Refugium.
Zu lange hatte Walker in einer Welt voller Korruption und Verbrechen gelebt, als dass er noch auf solche Versprechungen hereingefallen wäre. Zu lange hatte er auf der Seite der kleinen Leute gekämpft und einmal zu oft verloren. Gleichheit existierte nicht, auch wenn sie von vielen unablässig propagiert wurde. Sie war eine Illusion.
Walker verscheuchte die Gedanken, als sich die Tür zur Bar öffnete und seine Verabredung eintrat. Er drückte die Zigarette aus und beobachtete, wie sich Lieutenant Anila Sethi mit einer Mischung aus militärischer Steifheit und weiblicher Eleganz auf den Tisch zubewegte. Es war das erste Mal, dass er sie in ziviler Kleidung sah. Ihr schlanker, durchtrainierter Körper zeichnete sich unter der engen Jeans und dem Shirt ab, über dem sie eine sportliche Jacke trug. Ihre Schönheit war unbestreitbar, aber abweisend, kalt und unnahbar. Wie üblich war ihr Gesicht eine fein gearbeitete Maske, undurchdringlich und unverrückbar. Heute wollte Walker sie ihr vom Kopf reißen.
Mit einem Gedankenbefehl an sein Neuroimplantat aktivierte er das Sozialmodul, das ebenso illegal und weltweit verboten war wie ein Großteil seiner Hardware. Sofort schoben sich neue Anzeigen und Werte in sein Sichtfeld. Das Modul ermöglichte eine Analyse des Gesprächspartners. Zusammen mit seinen anderen Implantaten und blitzschnellen Prozessoren gestattete es ihm, sein Gegenüber besser zu durchschauen. Körpersprache, Gesichtsausdruck und Stimmlage wurden aufgezeichnet und zu einem Gesamtbild verarbeitet. Auch unwillkürliche Körperreaktionen wie die Erweiterung der Pupillen, ein beschleunigter Herzschlag und das Erröten des Gesichts wurden vom System binnen Millisekunden erfasst und ausgewertet. Zusammen mit typischen sprachlichen Reaktionen ergab sich so ein komplettes psychologisches Profil und vor allem eine Echtzeit-Analyse, die Walker nutzen konnte, um Verhöre nach seinem Wunsch zu beeinflussen.
»Lieutenant, es freut mich, dass Sie gekommen sind.«, sagte er mit professioneller Freundlichkeit und lächelte dezent. »Nehmen Sie doch bitte Platz.«
»Detective.«, gab sie knapp zurück und setzte sich ihm gegenüber auf die Bank. »Sie sagten, Sie hätten neue Informationen zu dem Attentat auf den Rat?«
In ihrer Stimme war eine so offenkundige Distanziertheit als wären sie sich nie zuvor begegnet. Walker hatte richtigerweise erwartet, dass es kein freundschaftliches Gespräch werden würde.
»Was, gar kein Smalltalk heute?«, fragte er spöttisch.
»Für ein bisschen Smalltalk sind Sie bestimmt nicht den weiten Weg nach City One gekommen.«, erwiderte sie ungerührt. »Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, andernfalls werde ich wieder gehen.«
Walker machte ein unschuldiges Gesicht und wog den Kopf leicht hin und her.
»Was das betrifft, habe ich möglicherweise ein wenig übertrieben.«
Sein Blick hätte sich beinahe an ihren scharfen Gesichtszügen geschnitten.
»Wieso haben Sie mich dann hierher bestellt?«, fragte sie ungeduldig.
»Ich habe gehört, dass Sie gerade unfreiwillig Urlaub machen.«, sagte Walker, was Sethis Pupillen aufblitzen ließ. Die Anzeigen vor seinen Augen sprangen an und bewiesen ihm, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Ansonsten ließ sie sich aber nichts anmerken.
»Woher wissen Sie das?«
»Ich bin ein Cop. Geheimnisse in Erfahrung zu bringen ist mein Job.«
»Dann müssten Sie auch wissen, dass ich meine derzeitige Situation ihnen und Major Reeves zu verdanken habe.«, sagte sie scharf.
»Aus diesem Grund habe ich Sie hierher gebeten.«, erwiderte Walker. »Ich würde mich gerne mit Ihnen über die aktuelle Situation unterhalten.«
»Was gibt es da zu unterhalten?«, fragte sie gereizt. »Sie und der Major haben Scheiße gebaut, die jetzt auf mich zurückfällt. Und wofür das Ganze? Die Spuren sind kalt, Sie haben Ihren Fall verloren, der Major sitzt hinter Gittern und ich werde womöglich degradiert. Ich war von Anfang an gegen diese Geheimniskrämerei. Cardoso denkt sogar darüber nach, mich wegen Subordination anzuklagen. Wie ich das sehe, ist die Situation doch recht eindeutig.«
Walker begegnete ihrem missbilligenden Blick mit einem locker sitzenden Lächeln.
»Ist sie das?«, fragte er und wurde übergangslos ernst. »Für mich wären da noch einige Punkte offen. Zum Beispiel die Tatsache, dass Sie die Informationen über das Attentat auf den Rat an die Medien weitergegeben und damit die gesamte Mission gefährdet haben.«
Die direkte Attacke verfehlte ihre gewünschte Wirkung nicht. Ihre starre Miene wurde für einen Augenblick erschüttert. Das Sozialmodul arbeitete auf Hochtouren.
»Was reden Sie da?«, fragte sie verwirrt.
Die Anzeigen von Walker reagierten, für eine eindeutige Aussage war es aber noch zu früh. Das Programm benötigte Zeit, um zu lernen. Walker musste sie zum Weiterreden bewegen.
»Sie wissen ganz genau, was ich meine.«, fuhr er fort. »Der Major hat mich kurz vor seinem Soloeinsatz vor Ihnen gewarnt. Mit Ihrem egoistischen Verhalten haben Sie Menschen in Gefahr gebracht. War es das wert?«
Der Blick von Sethi entflammte sich. Sie sprang vom Tisch auf. Die Reaktion ließ die Anzeigen vor Walkers Augen regelrecht explodieren.
»Ich bin nicht hergekommen, um mir schwachsinnige Anschuldigungen anzuhören! Sie haben mich getäuscht! Schieben Sie sich Ihr Verhör sonst wohin!«, brüllte sie und warf ihm einen warnenden Blick zu, der ihn auf Distanz halten sollte. »Das Gespräch ist beendet.«
Sie machte sich zum Gehen bereit, doch Walker blieb ruhig sitzen, einen Arm um die Lehne der Bank gelegt.
»Ich verstehe.«, sagte er laut genug, dass sie es hören konnte. »All die Jahre über wollten Sie nichts anderes als ein Ghost zu werden und dann entscheidet sich der Rat für den Major anstatt für Sie, obwohl er den Posten gar nicht wollte. Muss Sie verdammt wütend gemacht haben.«
Sethi hielt inne. Ihre gesamte Haltung versteifte sich. Sie wollte etwas entgegnen, verzichtete aber darauf und marschierte auf den Ausgang zu. Für Walker waren das eindeutige Zeichen ihrer Schuld. Es blieb nur noch die Frage zu klären, wie weit diese Schuld tatsächlich ging.
»Also haben Sie die gesamte Mission verraten in der Hoffnung, der Job würde Ihnen in den Schoß fallen.«, rief er ihr hinterher. »Dumm nur, dass der Plan nicht aufgegangen ist.«
Sethi hatte den Ausgang fast erreicht, machte aber Halt. Sie wandte sich mit einer so raschen Bewegung um, dass es beinahe übermenschlich wirkte. Von ihrer Maske war nichts übrig geblieben, sie war geschmolzen und als zornige Grimasse ausgehärtet.
»Ich habe es nicht nötig, mir so eine Scheiße anzuhören.«
»Nein, das haben Sie wohl nicht.«, gab Walker zurück und lächelte herausfordernd. »Sie haben sich schließlich selbst ins Knie geschossen mit Ihrer Verzweiflungstat. Immerhin haben Sie dafür Ihre ganze Karriere aufs Spiel gesetzt. Mutig. Aber eines verspreche ich Ihnen: Wenn Sie jetzt gehen, werden die Beweise den Weg in die richtigen Hände finden und dann dürfte eine Degradierung das geringste Ihrer Probleme sein.«
»Ich höre mir diesen Schwachsinn nicht länger an.«, ätzte sie und marschierte wütend aus der Bar.
Walker war überrascht, dass sie nicht auf die Drohung angesprungen war und folgte ihr nach draußen. Der Barkeeper, der sie die ganze Zeit über beobachtet hatte, wollte ihm noch etwas nachrufen, doch da ließ Walker mit einem geübten Handgriff seine Polizeimarke über die Handkante gleiten, gerade genug um den Mann hinter dem Tresen verstummen zu lassen.

Kapitel 2 (Gesamter Text)

2 – Die Schuldigen

Zelle 4 im Sanctum – City One

Devon dachte an die unschuldigen Opfer seiner Untätigkeit. Die Bilder ihrer verstümmelten Leichen inmitten des heißen Sands waren so frisch wie eine offene Wunde. Diese Menschen hatten in ihrem Leben so viel Leid erlebt und anstatt ihnen zu helfen hatte er sie hingerichtet. Der Rest seiner Erinnerungen ging in einem sensorischen Sandsturm aus Verzweiflung, Todessehnsucht und Schreien unter. Dreizehn Jahre waren seither vergangen – eine Tat, die besser im Dunkeln geblieben wäre, war ans Licht gezerrt worden. Es war jenes Ereignis, das den Widerstand gegen seine Verhaftung schließlich gebrochen hatte.
Schon am nächsten Tag hatte er damals Blackhammer verlassen und beinahe alles aufgegeben, einschließlich seines eigenen Lebens.
Jetzt war die schrecklichste Erfahrung seines Lebens ein allgegenwärtiger, medialer Alptraum, dem er nicht entfliehen und den er nicht leugnen konnte. Die Welt sah ihn nun als das, was er war: Der glorreiche Held des Rates war in Wahrheit ein rücksichtsloser Schlächter, für den zivile Opfer keine Bedeutung hatten. Bilder von toten Kindern ließen einen Sturm unvergleichlichen Hasses über ihm toben. Devon war im Moment wohl der meistgehasste Mensch der Welt. Selbst Crow musste sich hinter ihm anstellen, um seine verdiente Dosis Hass abzubekommen. Auch wenn Devon um die Kurzlebigkeit solcher Entrüstungen wusste, stellte sie doch das Ende seiner Karriere als Ghost und Soldat dar. Er gab sich keinen Illusionen hin – für ihn gab es nur noch einen Ort: das Gefängnis.
Wortlos hatten sie ihn schließlich in die abgesicherte Einzelzelle geführt, wo er seither mit drei Mahlzeiten am Tag residierte. Innerhalb eines Tages war er medial von einem Kriegshelden zu einem Monster degradiert worden. Die Medien labten sich wie Aasfresser am Leichnam seines Rufs und hatten bereits einen passenden Spitznamen gefunden: Devon Reeves, der Schlächter.
Er schloss die Augen in der Hoffnung, die entsetzlichen Bilder aus seinem Verstand verbannen zu können, doch sie verfolgten ihn auch hinter den geschlossenen Lidern. Der Lärm des Gemetzels hallte in seinen Ohren wider: ein Echo der Vergangenheit. Einige seiner Kameraden waren an diesem Tag zerbrochen, ohne Chance auf Vergebung oder die Möglichkeit, sich einer gerechten Strafe zu stellen. Alles war vertuscht worden. Für Blackhammer war es nur eine von unzähligen erfolgreichen Aktionen mit unerwartetem Ausgang. Die Geschichte wurde einfach umgeschrieben, alle Beweise getilgt. Niemand durfte über den wahren Vorfall sprechen. Die meisten erhielten ihre Boni und machten weiter wie zuvor, als wäre nichts Außergewöhnliches geschehen. Die Geschichte von Blackhammer wurde in ihren Köpfen real und ersetzte die entsetzliche Realität. Wer ein Problem damit hatte, wurde auf die Straße gesetzt oder mundtot gemacht. Aber Devon hatte gesehen, dass sich bei vielen etwas verändert hatte: Einige seiner Kameraden hatten einander nicht mehr in die Augen sehen können und um Versetzung in andere Trupps gebeten. Er selbst hatte sich für den Ausstieg entschieden.
Erst später hatte Devon erfahren, dass das gesamte Gebiet reich an seltenen Erden gewesen war. Der Name war Programm. Durch die zunehmende Technologisierung gingen die Ressourcen, die für die Entwicklung moderner Geräte und Techs unabdingbar waren, langsam zur Neige. Kämpfe um jeden Quadratmeter Boden waren an der Tagesordnung. Üblicherweise waren es Söldner wie Devon, die aufeinander losgingen, sofern die Loyalität nicht gerade zur finanziell potenteren Seite wechselte.
In diesem Fall hatte es Unschuldige getroffen, die auf einem Kontinent leben mussten, der längst nicht mehr in Staaten unterteilt, sondern auf hunderte Firmen aufgeteilt war und täglich den Besitzer wechselte. Weder Blackhammer noch die Arbeitgeber hatten ein Interesse daran gehabt, den wertvollen Boden mit den Flüchtlingen zu teilen. Sie wollten die lästigen Siedler vertreiben – ob aus Prinzip oder um mit dem Abbau zu beginnen, wusste Devon nicht. Auf jeden Fall war die Situation vollkommen außer Kontrolle geraten.
Devon öffnete die Augen und starrte wieder zur Deckenbeleuchtung hinauf. Vor diesem Tag im Jahr 2069 hatte er sich stets eingeredet, eine Sicherheitskraft zu sein, für Ordnung zu sorgen, das Richtige zu tun. Doch ab diesem Moment war ihm klar geworden, dass er in all der Zeit nichts anderes als ein Söldner gewesen war. Blackhammer bezeichnete sich in der Öffentlichkeit als Sicherheitsunternehmen, doch ein Großteil der Aufträge waren privat finanzierte Kleinkriege. Konzerne die sich mit einer nie da gewesenen Härte bekämpften – mit eigeschleusten Agenten und Sabotageakten. Das Leben der eigenen Mitarbeiter wurde in Credits bemessen. Heute wusste Devon, dass er Teil einer Armee gewesen war, deren Loyalität so flexibel wie der aktuelle Creditwert war.
Im Moment blieb ihm nichts weiter übrig, als seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Immer wieder lösten sich Bilder der toten Illegalen aus seinem Gedächtnis, tropften wie Batteriesäure auf sein ungeschütztes Gewissen und spülten alte, ätzende Erinnerungen hinterher: Erinnerungen an eine Zeit, auf die er nicht stolz war und die trotz all des Bedauerns und der Ablehnung ein Teil von ihm war. Dreizehn Jahre alt waren die Dateien in seinem Kopf und trotz aller Versuche, sie zu löschen, waren sie doch kein bisschen abgenutzt oder verstaubt. Noch immer hatten sie die Klarheit von hoch auflösenden 3D-Aufnahmen. Devon konnte weder leugnen, was Blackhammer für ihn getan hatte noch konnte er behaupten, die Zeit nicht auch genossen zu haben.
Er war jung gewesen, naiv, ohne jede Lebensperspektive und mit einem Mehrfachmord auf dem Konto. Ein fabriksneuer, aber beschädigter Datenträger, den Blackhammer nur mehr beschreiben musste. Genau nach dieser Art von Rekruten hielten die Talentsucher der privaten Sicherheitsunternehmen Ausschau, und es gab mehr als genügend von ihnen rund um den Globus. Sie warben mit einem guten Einkommen, einer kostenlosen Ausbildung und jeder Menge Action. Für viele war es die bessere Option als bei einer der Straßengangs unterzukommen oder sich als Gauner durchzuschlagen. So war auch Devon zu einem Söldner unter dem Banner von Blackhammer geworden. Kameraden waren zu neuen Geschwistern geworden, mit denen er ständig konkurrierte. Ausbilder waren zu strengen Eltern geworden, die ihn bestraften oder belohnten. Das Lager war seine neue Heimat geworden und Overlord sein Gott.
Doch auch wenn er sein derzeitiges Leben zu einem Großteil Blackhammer verdankte, bereute er so vieles von damals. Schon lange war der Stolz in seiner Brust erloschen, das Symbol von Blackhammer auf seiner Kleidung getragen zu haben. Zurück blieb ein verkohlter Rest komprimierten Bedauerns. Für den Devon von damals war das jedoch anders gewesen. Blackhammer war sein Leben, seine Religion und seine Heimat gewesen. Befehle wurden nicht hinterfragt, sie wurden mit Begeisterung ausgeführt – je schwieriger, desto besser. Töten war nicht nur Teil der Arbeit, es war eine Art Wettkampf, etwas Sportliches, in dem man von Mal zu Mal besser wurde. Wie bei jedem Handwerk lernte man die Feinheiten und wurde effektiver, bis es zu einer automatisierten Handlung wurde, auf die das Denken kaum noch Einfluss hatte. Immer wieder war es ein fatales Spiel auf Leben und Tod, das einen entweder zerbrach oder in einen Zustand zwischen beispielloser Euphorie und gnadenloser Raserei versetzte.
Devon seufzte, als seine Gedanken immer neue, schwarze Fetzen aus dem abgelegenen See der verdrängten Erinnerungen zogen. Das Bild einer jungen Kameradin drängte sich ihm mit aller Deutlichkeit auf. Er sah das verführerische Lächeln auf ihren vollen Lippen und den anzüglichen Blick in ihren klaren, blauen Augen. Devon hatte plötzlich wieder den intensiven, süßen Duft ihrer hellen Haut in der Nase, die sich deutlich von ihren dunkelroten Haaren abhob. Er spürte das Drängen seines eigenen Körpers von damals, wenn er sich in ihrer Nähe befunden hatte. Sie war wild und unbeherrscht gewesen, so unberechenbar und heiß wie offenes Feuer, das sich auch in ihren Haaren widergespiegelt hatte. Devon hatte sich in jungen Jahren mehrmals an ihr verbrannt und jede Sekunde in den sengenden Flammen genossen. Es war keine romantische Beziehung gewesen, wie sie noch immer von so vielen als Ideal angestrebt wurde. Sie hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Spiel gehabt, wie auch das Töten zu einem Spiel geworden war. Jede Berührung, jeder Akt, jedes Wort wie eine Waffe. Sie zu lieben hieß zugleich sie zu hassen. Ihr nahe zu sein, hieß sich von ihr zu entfernen. Devon würde sie nie vergessen, mit ihrer aufbrausenden Art und dem unauslöschlichen Zorn in ihren Adern, als wollte sie die Welt für ihre bloße Existenz brennen sehen. Er würde auch nie vergessen, wie sich ihre verschwitzten und schmutzigen Körper im engen Zelt ineinander entladen hatten, die Hände fest auf die Münder gepresst, um die anderen Kameraden nicht zu wecken. Schweigend, inmitten des salzigen Geschmacks ihrer Lippen und der süßen Verlockung zwischen ihren Schenkeln hatte er das erste Mal in seinem Leben eine Frau gehabt.
Eines Tages war sie von einem Einsatz nicht mehr zurückgekehrt. Ein weiterer Name auf der Liste der Gefallenen. Ein weiteres Opfer im sinnlosen Krieg der Söldner. Devon hatte mit einigen Flaschen harten Alkohols um sie getrauert. Wie ihre Beziehung hatte sich auch seine Trauer verhalten: hart, schmerzhaft und kurz.
Die verstaubten Aufzeichnungen seiner Vergangenheit spulten weiter und ließen ihn seine Karriere bei Blackhammer wie im Zeitraffer erleben. Er musste erkennen, wie viel ihm von damals geblieben war, wie wenig er davon abgeschüttelt hatte. Blackhammer hatte ihn geformt und aus dem jungen Rohmaterial einen Soldaten geschliffen. Er konnte nicht auslöschen, was er war, auch wenn er schließlich davor weggelaufen war.
Devon dachte an Lisa, in deren rettende Obhut er nach dem Austritt bei Blackhammer zurückgekehrt war. Er hatte sich geschworen, all das hinter sich zu lassen und ein normales Leben zu führen. Doch er war dazu nicht imstande gewesen. Die Tage waren vorbeigezogen wie dicke Wolken, ohne je mehr einen Funken Sonnenlicht hindurch zu lassen. Lisa hatte sich alle Mühe gegeben, ihn in die Welt der Lebenden zu holen und doch war er eines Tages einfach gegangen, ohne große Worte, ohne langen Abschied, als hätte er nur für eine begrenzte Dauer bezahlt.

City One – Atlantik

Walker holte Sethi schnell ein. Sie drehte sich nur kurz zu ihm um, ihre Augen zu einer deutlichen Warnung verengt. Dann ging sie weiter. Walker blieb dennoch an ihr dran.
»Wissen Sie, was mich brennend interessiert, Lieutenant?«, fragte er und bemühte sich um einen selbstgefälligen Ton. »Ist das Ganze auf Ihrem Mist gewachsen oder haben diese Leute Sie gekauft?«
»Lassen Sie mich in Ruhe, oder ich schwöre, Sie werden es bereuen.«, fauchte Sethi über die Schulter hinweg, ohne stehen zu bleiben.
Doch Walker ließ nicht locker. Er war überzeugt, dass sie eine wichtige Rolle in dem Fall um das Attentat spielte.
»Sie waren von Anfang an der Maulwurf, nicht wahr?«, sagte er mit fester Stimme, die keine Zweifel ließ, während sein Implantat immer mehr Daten zu Sethis Verhalten sammelte. »Wie lange geht das schon so? Seit Johannesburg, seit der Major zum Ghost wurde? Gehörte das alles zum Plan?«
Mit diesen Worten brachte er die Soldatin neuerlich zum Stehen, ihr Gesicht glühte. Walker hatte die Waffe unter ihrer Jacke schon bei ihrem Eintreten in die Bar erkannt. Er wusste, dass er sie in einen gefährlichen Gemütszustand manövrierte, aber es war ein Risiko, das er bereit war einzugehen. Der Nordström wartete unter seinem Mantel auf den Einsatz.
»Ich wusste ja, dass Sie verrückt sind, aber nicht wie verrückt.«
Walker überhörte die Beleidigung und fokussierte sie mit seinen Cyberaugen wie ein Scharfschütze sein Ziel. Er musste sie weiter mit Anschuldigungen bombardieren. Sie sollte erkennen, dass er sie durchschaut hatte und ihr keine andere Wahl blieb, als mit ihm zu sprechen.
»Gehören Sie zu denen oder hat man Sie nur mit Versprechen geködert? Sollten Sie Ghost werden, sobald alle Beweise zerstört und der Major ausgeschaltet sein würde?«
»Hören Sie sich eigentlich selbst reden?«, fragte Sethi. Da war nur noch Verachtung in ihrem Blick. »Der Major hätte nie gemeinsame Sache mit Ihnen machen dürfen.«
Walker lächelte sie ironisch an und überging ihre Kommentare.
»Nein, ich glaube kaum, dass Sie zu diesen Leuten gehören.«, sagte er unbeirrt. »Sonst würden Sie jetzt nicht kurz vor einer Degradierung stehen. Wissen Sie, was ich denke? Die haben Sie nur benutzt und Sie dann fallen lassen, nicht wahr? Und jetzt können Sie nicht mehr zurück, können nicht gestehen, ohne selbst dran glauben zu müssen. Beschissene Situation, nicht wahr?«
»Ich werde jetzt gehen.«, sagte Sethi. »Sie brauchen dringend Hilfe, Detective. Sie leiden ganz offensichtlich unter hochgradiger Paranoia.«
Sethi machte es ihm nicht leicht. Auch das Sozialmodul konnte ihm nur bestätigen, dass die Anschuldigungen sie aufregten. Doch da sie kaum auf die Fragen einging, konnte er den Wahrheitsgehalt seiner Theorie nicht überprüfen.
Sethi drehte sich auf dem Absatz um und wollte gerade gehen, da spielte Walker seinen letzten Trumpf aus.
»Und all das im Namen von Dilipa?«, fragte er. »Glauben Sie, Ihre Schwester hätte das gewollt?«
Die Frage ließ Sethi erstarren. Es war, als hätte er mit einem Speer nach ihr geworfen und sie auf der Stelle festgesetzt. Als sie sich umdrehte, blitzte die Pistole zwischen ihren Fingern auf. Walker hatte damit gerechnet und hielt den wuchtigen Nordström-Revolver bereits in der Hand.
»Wichser!«, fauchte sie und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Sie haben nicht das Recht, ihren Namen in den Mund zu nehmen.«
Walker lächelte sie überlegen über seinen Revolver hinweg an. Die Anzeigen vor seinen Augen schlugen wild aus.
»Ich kenne Ihre Geschichte.«, sagte er und holte zum finalen Schlag aus. »Und Ihre Beweggründe. Sie wollen doch nur ihre Schwester rächen. Als Polizistin in Indien konnten Sie es nicht, aber als Ghost glauben Sie es zu können. Denn als Ghost stehen Sie über dem Gesetz, das sich ja einen Scheißdreck um die Rechte irgendeines Mädchens schert, das auf der Straße vergewaltigt und liegen gelassen wird. Also sind Sie zur Armee gegangen und haben seither zielstrebig auf den Posten hingearbeitet. Doch sie wurden ständig übergangen, abgelehnt und das, obwohl Sie immer alles richtig machen. Sie konnten es nicht länger ertragen und als diese Leute dann an Sie herangetreten sind, bot sich Ihnen eine Chance. Alles was Sie zur Erfüllung Ihrer Ziele tun mussten, war den Major und die Ermittlungen zu sabotieren.«
Ihr Gesichtsausdruck flackerte und stand kurz vor dem Zusammenbruch. Sie hatte ihre Fassung komplett verloren. Walker hatte eine Wunde geöffnet und würde weiter darin bohren, um auch den letzten Tropfen blutiger Wahrheit aus ihr herauszubekommen.
»Sie haben Menschen für Ihre kleinlichen, eigensinnigen Belange gefährdet. Das widert mich an. Der Major hätte Sie aus dem Team werfen sollen, als er noch die Gelegenheit dazu hatte. Sie sind eine Schande für den Soldatenstand.«
Nachdem Sethi den ersten Schock überwunden hatte, festigte sich ihr Blick wieder. Ein hässlicher Gesichtsausdruck schob sich in ihr schönes Gesicht. Einen Augenblick lang glaubte Walker, sie würde auf ihn schießen, doch statt Kugeln peitschte nur ihre Stimme durch die Luft.
»Nichts wissen Sie, gar nichts!«
»Dann erklären Sie es mir!«, antwortete Walker, bereit, jederzeit den Abzug zu drücken, falls sie ausrasten sollte. Er hatte sie jetzt genau da, wo er sie haben wollte: in die Ecke gedrängt, aufgewühlt und unkontrolliert. »Oder wollen Sie mir etwa sagen, dass alles nicht wahr ist? Dann ist es wohl auch nicht wahr, dass Sie und Ihre Schwester Optis sind, geschaffen, um für Männer hübsch und reizvoll zu sein, oder dass Sie in frühen Jahren nur deswegen zur Polizei gegangen sind, weil man Dilipa diese furchtbaren Dinge angetan hat?«
»Seien Sie still!« Ihr Gesicht war in heller Aufruhr.
Die Anzeigen vor den Augen von Walker blinkten grell auf. »Muss schwierig gewesen sein zwischen all den Männern, wenn einem niemand zuhört, vor allem mit einem genetisch so perfekten Körper. Sie waren immer und überall nur die makellose Schönheit, nicht viel mehr als eine erotische Fotografie auf einem Wandkalender, nicht wahr? Die Frustration muss Sie regelrecht zerfressen haben, Lieutenant. Kein Wunder, dass Sie bereit waren, alles zu tun, um ein Ghost zu werden.«
Sethi kam Walker ein paar Schritte entgegen, die Waffe in ihrer Hand zitterte nicht, obwohl ihrem Körper die Spannung anzusehen war. Ihre Haltung hatte jegliche Eleganz und militärische Zurückhaltung verloren.
»Sie haben überhaupt keine Ahnung, wie es ist, als Frau in Indien zu leben!«, sagte sie mit lauter werdender Stimme. »Man sollte glauben, es hätte sich in den letzten Jahrzehnten etwas geändert, doch das ist nur eine Illusion.«
Walker beobachtete Sethi, ohne sie zu unterbrechen. In ihren Augenwinkeln klebten Tränen des Zorns.
»Sie sind über Dilipa hergefallen wie die Hyänen, als wäre sie ein hübsches Spielzeug, dass sie kaputt machen wollten. Niemand hat ihr geholfen! Niemand! Es war allen egal!«
In ihrer Stimme klang die ätzende Wahrheit der Vergangenheit, die durch die Ritzen ihrer mühsam aufgebauten Maskerade hindurch quoll. »Ich wurde Polizistin, weil ich gegen diese Ungerechtigkeit ankämpfen wollte. Doch ich wurde von den Männern immer nur behandelt wie eine …«
»Frau?«, beendete Walker den Satz.
Sethi sah ihn für einen Moment scharf an und wandte den Blick dann angewidert ab, als wäre er an allem schuld.
»Ja.«, sagte sie. »Ich wurde nie ernst genommen, als bestünde ich nur aus Brüsten und einer Muschi. All die Jahre über hat sich nie jemand für meine Fähigkeiten oder meine Leistungen interessiert. Kein einziges Mal!«
»Also haben Sie alles daran gesetzt, Ghost zu werden. Verständlich.«, sagte er. »Dann könnten Sie es endlich all den Schweinen in Ihrem Heimatland zeigen, sie das Fürchten lehren, sie bestrafen.«
»Ja!«, entfuhr es ihr. »Genau das wollte ich. Jeder einzelne dieser Hurensöhne sollte leiden. Sie haben es nicht anders verdient. Was ist falsch daran?«
Walker hatte erreicht, was er wollte. Die Anzeigen seines Sozialmoduls unterstützten seine Vermutungen. Er hatte Sethi durchschaut, sie war der Maulwurf. Jetzt musste er sie nur noch sanft zur Wahrheit führen.
»Nichts ist falsch daran.«, antwortete er mitfühlend und senkte langsam die Waffe. »Ich verstehe Sie sogar sehr gut. All diese Ungerechtigkeit, diese ständige Ablehnung. Jeder hat seine Grenzen. Falsch ist nur, was Sie getan haben: Lügen, Verrat, das Opfern von Unschuldigen. Sie wollten bestimmt nicht, dass das alles geschieht, aber es ist nun einmal geschehen. Noch ist es nicht zu spät, Sie können alles noch immer richtig stellen, Ihren Verrat wieder gut machen, wenn Sie mir jetzt die ganze Wahrheit erzählen.«
»Ich habe niemanden verraten!«, schrie Sethi mit explodierender Stimme. »Ich würde nie eine Mission gefährden, niemals! Was auch immer Sie sich da in Ihrem verrückten Kopf zusammengereimt haben, es stimmt nicht. Ja, ich wollte Ghost werden, mehr als alles andere, aber ich hätte die Mission nie gefährdet. Ich war es nicht, die die Informationen an die Medien weitergegeben hat.«
Walker beobachtete Sethi. Das Sozialmodul interpretierte ihre Reaktion als die Wahrheit und nach einem so langen und intensiv geführten Gespräch war die Zuverlässigkeit der Analysen sehr hoch. Walker war verwirrt, ließ es sich aber nicht anmerken.
»Sie müssen nicht länger lügen. Es gibt Beweise für Ihren Verrat. Wenn Sie mit mir zusammenarbeiten, wird keiner davon Sie belasten.«
»Was reden Sie da eigentlich?«, fragte Sethi und ließ nun ebenfalls die Waffe sinken. In ihrem Blick breitete sich so etwas wie Mitleid aus. Ihre Stimme bekam wieder ihre alte Festigkeit. »Sie brauchen dringend Hilfe, Detective. Sie sind nicht der Einzige, der Informationen sammeln kann. Ich kenne Ihre Akte. Der einstige weiße Ritter, der so tief gefallen ist, dass er nur noch Verschwörungen und Verrat sieht. Sie klammern sich mit aller Kraft an diesen Fall, da Sie sonst nichts mehr haben. Deswegen erfinden Sie irgendwelche Hirngespinste.«
Jetzt war Walker durcheinander. Er hatte in seinem Leben mit so vielen Verbrechern und Lügnern gesprochen, dass er einen sechsten Sinn dafür entwickelt hatte. Und trotzdem glaubte er ihr. Außerdem wiesen alle Anzeigen darauf hin, dass Sethi die Wahrheit sagte. Ihre Reaktionen waren zu extrem, ihre Körpersprache zu eindeutig und selbst die Mikroexpressionen unterstrichen das. Entweder sie war eine erstklassige, nein, eine perfekte Lügnerin oder sie sprach tatsächlich die Wahrheit.
»Sie waren vielleicht einmal ein ausgezeichneter Detective, aber jetzt sind Sie nur noch eine lächerliche Figur in Ihrem eigenen Trauerspiel.«, sagte sie kopfschüttelnd. »Sehen Sie das besser ein, bevor Sie noch jemandem damit schaden. Man sagt Ihnen womöglich nicht umsonst nach, dass Sie eine Gefahr für die Allgemeinheit sind.«
Walker ließ sich im Schnelldurchlauf noch einmal alles durch den Kopf gehen. Er erinnerte sich an die Zusammenarbeit mit dem Major und seinem Team. Er bewertete jedes gesprochene Wort, las zwischen den Zeilen und sortierte die Daten neu. Seine Gedanken wirbelten um Beweise, Tatsachen und Erkenntnisse und verknüpften sie mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung. Für seinen Job war es notwendig, blitzschnell umzudenken, Theorien ohne Zögern zu verwerfen und anschließend neue zu erschaffen.
Alle Quellen sprachen davon, wie korrekt Lieutenant Sethi war und dass sie eine Mission immer über alles andere stellte, sogar über sich selbst und das Leben ihrer Kameraden. Der Gedanke, dass sie sowohl die Mission als auch ihre Karriere aufgrund ihrer persönlichen Antipathien aufs Spiel setzte, war zwar an sich unwahrscheinlich, doch der angebliche Beweis ihrer Schuld hatte zusammen mit ihrer Geschichte die Theorie gestützt. Walker wusste nur zu gut, welche destruktive Wirkung ständige Ablehnung und Frustration auf einen Menschen haben konnten.
»Ich werde jetzt gehen, Detective, rufen Sie mich nie wieder an und halten Sie sich von mir fern.«, sagte Sethi, bereit, endgültig zu verschwinden.
»Warten Sie.«, bat Walker in einem versöhnlichen Ton. Mit einem Schlag wurde ihm klar, dass er die Falsche beschuldigt hatte. »Ich habe mich geirrt.«
Sethi blickte ihn misstrauisch an.
»Ich falle nicht auf Ihre plumpen Tricks rein, Detective.«
»Das ist kein Trick.«, erwiderte er. »Ich habe mich wirklich geirrt. Das ist mir erst jetzt klar geworden.«
»Wie schön, freut mich zu hören.«, spottete sie. »Da geht es mir doch gleich viel besser.«
»Nein, hören Sie zu.«, drängte Walker. »Was wissen Sie von diesem Techspecialist, wie hieß er noch …«
»Rush?«, fragte Sethi. »Haben Sie es sich anders überlegt, ist er jetzt der Bösewicht in Ihrer Geschichte?«
»Genau so ist es.«, sagte Walker mit einer Bestimmtheit, die Sethi das spöttische Lächeln aus dem Gesicht zog. Plötzlich ergab alles einen Sinn. »Der Major wollte an dem Tag, an dem man ihn festgenommen hat, einer Spur nachgehen. Zuvor hat er mir aber noch eine Nachricht zukommen lassen, laut der ich Ihnen nicht mehr vertrauen sollte.«
Die Skepsis in ihren Zügen blieb.
»Ich habe stets seine Befehle befolgt, wieso sollte er so etwas sagen?«
»Weil Rush es ihm empfohlen hat.«
»Was?«, fragte sie. »Wollen Sie mich verarschen?«
»Ich habe die Nachricht hier, wenn Sie mir nicht glauben.«
»Das tue ich wirklich nicht.«, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Schicken Sie sie mir.«
Walker übermittelte ihr die Sprachaufnahme, die sie mit ihrem Neuroimplantat abspielte. Danach lockerten sich ihre strengen Gesichtszüge ein wenig.
»Rush hat behauptet, ich hätte die Informationen an die Medien weitergegeben, aber wieso?«
»Weil er in Wahrheit der Maulwurf ist.«, sagte Walker und diesmal bestand kein Zweifel mehr. »Was wissen Sie über den Mann?«
»Nicht viel.«, gestand Sethi. »Er war erst kurz an der Akademie für Cyberwar, hat aber alle anderen Rekruten und auch das gesamte Cyberwar-Team mit seinen Fähigkeiten in den Schatten gestellt. Also hat er den Job bekommen. Zumindest habe ich das so verstanden.«
»Hm.«, brummte Walker und fuhr sich geistesabwesend durch den Bart. »Sehr verdächtig.«
»Meinen Sie?«, fragte Sethi wenig überzeugt.
»Ist da noch etwas? Denken Sie nach!«, drängte Walker. Er spürte diesen intensiven Impuls, wie immer, wenn sich eine neue Spur vor ihm auftat. »Was wissen Sie noch über ihn? Gab es etwas Verdächtiges, das darauf hindeuten könnte, dass er nicht der war, für den er sich ausgab?«
Sethi machte ein nachdenkliches Gesicht. Kurz schien es, als würde sie das Gespräch entnervt beenden wollen, doch dann blitzte es in ihren Augen.
»Ja, der General hat da etwas erwähnt.«
»Was?«
»Dass er der Ersatz eines anderen Techspecialist gewesen sei, der erst kürzlich gestorben sei.«
»Lassen Sie mich raten, es war ein Unfall.«
»Ich weiß es nicht mehr.«
»Ein Zufall zu viel für meinen Geschmack.«
Walker starrte nachdenklich in die Luft.
»Das ist doch verrückt.«, sagte Sethi und winkte ab. Aber sowohl ihre Stimme als auch ihre Körpersprache verrieten, dass sie nicht sicher war.
»Nein, ist es ganz und gar nicht.«, sagte Walker. »Haben Sie seine Akte gelesen?«
»Ich hatte noch keine Gelegenheit, sie mir genauer anzusehen.«
»Egal.«, sagte Walker. »Aber denken Sie einmal darüber nach. Die Leute, die für das Attentat verantwortlich waren, waren uns immer einen Schritt voraus. Sie wussten über alles Bescheid und haben dem Major schließlich diese Falle gestellt.«
»Welche Falle?«, fragte Sethi. »Noch so ein Hirngespinst von Ihnen?«
Walker ging nicht darauf ein, dafür war jetzt kein Platz.
»Wer hatte stets Zugang zu allen Informationen und war auch noch für die technische Ausführung verantwortlich? Ich gehe davon aus, dass weder der Major noch Sie ausreichend technische Kenntnisse besitzen, um jemanden wie ihn zu kontrollieren. Oder irre ich mich?«
»Wahrscheinlich nicht.«, sagte Sethi. »Wir hätten aber auch keine Zeit dafür gehabt.«
»Genau.«, entgegnete Walker und zeigte mit dem Zeigefinger auf sie. »Rush konnte Informationen nach Belieben manipulieren und keiner von uns hätte es jemals mitbekommen.«
»Das sind doch alles nur Vermutungen.«, warf Sethi ein.
»Womöglich, aber finden Sie es nicht seltsam, dass Rush Sie beschuldigt und somit dafür gesorgt hat, dass der Major alleine in diese alte Fabrik gehen musste?«
Sethi zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung, es könnte viele Gründe geben, warum Rush das gesagt hat.«, sagte sie. »Ich glaube, er konnte mich von Anfang an nicht leiden.«
»Kann ich mir bei Ihrem Charme ja kaum vorstellen.«, sagte Walker und brachte ein spöttisches Lächeln zustande, das sie mit geradezu übermenschlicher Gleichgültigkeit parierte.
»Sehr witzig.«
»Wir sollten wieder reingehen, drinnen können wir uns in Ruhe unterhalten.«, schlug er vor.
Sethi warf einen spitzen Blick auf Walker, blieb aber. Er konnte nicht sagen, ob es aus Neugierde war oder weil sie ihm gleich eine reinhauen wollte.
»Was sollte das bringen?«, fragte sie mit dumpfem Desinteresse in ihrer Stimme.
»Ein paar Minuten mit einem äußerst attraktiven Detective.«, sagte er. »Reicht das denn nicht?«
Sethi runzelte die Stirn.
»Es gibt keinen Fall mehr, den Sie weiterverfolgen könnten.«, sagte sie. »Man hat Sie abgezogen, schon vergessen?«
»Es wären auch keine offiziellen Untersuchungen.«
»Sie sind noch verrückter, als ich dachte.«
Sie schüttelte den Kopf, aber da sie noch hier war, nahm Walker an, dass sie seinen Worten wenigstens ein wenig Glauben schenkte. Er musste sie überzeugen, möglicherweise würde sie ihm dann helfen.
»Verrückt ja, aber trotzdem habe ich Recht.«, sagte er. »Wollen Sie die Sache richtigstellen oder lieber darauf hoffen, dass sich alles auf magische Weise in Wohlgefallen auflöst? Wenn Rush zu den Verantwortlichen hinter dem Attentat auf den Rat gehört, wird er weitermachen. Wollen Sie das zulassen?«
Sethi hielt inne, ihr Zögern war für Walker Zeichen genug, dass er sie bald soweit hatte.
»Der Major wurde von Rush gelinkt.«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass er getan hat, was man ihm da vorwirft. Wenn sein Name reingewaschen wird und wir die Sache richtigstellen können, wird man auch die Vorwürfe gegen Sie fallen lassen.«
»Aber alle Beweise sprechen gegen Major Reeves.«, warf Sethi ein.
»Wie bei Ihnen?«, fragte Walker und zwinkerte ihr zu.
Sie wirkte mit einem Mal sehr nachdenklich.
»Sie stehen vor einer ganz einfachen Entscheidung.«, sagte Walker und deutete auf die Bar. »Entweder Sie opfern ein paar Minuten Ihrer Zeit und hören mir zu, oder Sie gehen und genießen Ihren vorläufigen Ruhestand in der Hoffnung, dass er nicht doch dauerhaft ausfällt.«
Sethi fuhr sich mit der Hand durch das lange, schwarze Haar, ein deutliches Zeichen ihrer Unschlüssigkeit.
»Na gut.«, seufzte sie schließlich und machte eine warnende Geste in Richtung Walker. »Aber das soll keine Zustimmung zu irgendwelchen verrückten Plänen sein. Ich werde mir anhören, was Sie zu sagen haben und danach entscheiden.«
»Nichts anderes habe ich erwartet, Lieutenant.«
Sie gingen unter dem kritischen Blick des Barkeepers zurück zu ihren Plätzen in der Bar. Walker kippte seinen Drink hinunter und winkte dem Mann hinter dem Tresen, der der Aufforderung wortlos nachkam.
»Noch einen Special One.«, sagte Walker.
Der Barkeeper nickte und sah zu Sethi herab. Sie erwiderte den Blick mit der ihr eigenen Kälte.
»Was darf ich Ihnen bringen?«
»Nichts, danke, ich habe nicht vor, lange zu bleiben.«
»Sie möchte dasselbe wie ich.«, fügte Walker hinzu und lächelte den Barmann mit gespielter Freundlichkeit an. Sie warf ihm einen wütenden Blick zu, der jedoch sofort wieder aus ihrem Gesicht verschwand.
»Ich schlage vor, Sie kommen zur Sache.«
»Für eine Soldatin, die gerade nichts zu tun hat, haben Sie es aber verdammt eilig.«, stellte er halbseitig grinsend fest. »Wartet noch ein Date auf Sie?«
»Ich bin ungeduldig, das ist alles.«
»Was Sie nicht sagen.«, sagte Walker und lenkte das Gespräch übergangslos auf das Thema zurück. »Haben Sie sich in letzter Zeit mit den Ereignissen der vergangenen Wochen befasst?«
»Was soll diese Frage, ich war doch dabei.«
Walker schüttelte den Kopf.
»Nein, das meine ich nicht. Ich rede von der internationalen Krise.«
»Sie meinen die Rebellen?«
Walker nickte.
»Sie wissen doch, dass Crow und seine Organisation für ein ordentliches Chaos sorgen, das sich inzwischen auf der ganzen Welt ausbreitet.«
»Diese Aufstände werden früher oder später ein Ende finden.«, entgegnete Sethi. »Der Rat hat alles unter Kontrolle.«
Eine Warnanzeige wies Walker auf eine kaum hörbare Veränderung in der Stimmlage von Sethi hin, die auf eine Lüge hindeutete.
»Ist das so?«, fragte er und zog verwundert eine Augenbraue hoch. »Ich habe gehört, dass es in Indien besonders schlimm sein soll. Es sind schon Tausende während der Aufstände gestorben und die Regierung ist mit der Situation komplett überfordert.«
Der Barkeeper brachte die Drinks. Sethi würdigte ihn keines Blicks.
»Danke.«, sagte Walker und deutete auf das Getränk. »Trinken Sie.«
Doch Sethi reagierte nicht darauf. Ihr Blick haftete ungeduldig an ihm.
»Indien war schon immer ein schwieriges Land.«, sagte sie, um Gleichgültigkeit bemüht, doch eine minimale Schwankung in ihrer Tonlage verriet die Wahrheit. »Haben Sie auch etwas zu sagen, dass ich noch nicht weiß oder finden Sie sonst keine Gesprächspartner?«
Walker verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Lächeln war nur ein schmaler Strich inmitten des leicht ungepflegten Barts.
»Sehen wir uns die Beweise an: Auf dem ärmsten Kontinent der Welt, wo die Menschen kaum mehr als Leid kennen, gab es einen gigantischen Aufstand. Crow tauchte mit seinen Oradrem auf und hat das gesamte Ratsheer und die dortigen Regierungen gestürzt.«
»Ich weiß, ich bin dort gewesen.«, sagte sie und verschränkte die Arme ebenfalls vor der Brust.
»Genau aus diesem Grund weiß ich, dass Sie es verstehen.«, gab Walker zurück. »Afrika war immer schon ein ausgebeuteter Kontinent, zerrissen durch skrupellose Regierungen und Konzerne, die stets dafür sorgten, dass es zu keiner Stabilität kam.«
»Wollen Sie mir jetzt auch noch eine Geschichtsstunde verpassen?«
»Ich will, dass Sie das große Ganze sehen. Wie konnte es urplötzlich dazu kommen, dass sich all die Verzweifelten und Rebellen zusammenschließen konnten, um gemeinsam das Ratsheer zu schlagen? Alleine die Waffen, die Mittel, die sie dafür benötigt haben, gingen weit über ihre eigenen Möglichkeiten hinaus.«
»Sie glauben, dass jemand Mächtiges dahinter steckt.«, vermutete Sethi.
»Treffer.«, sagte Walker. »Die Technologie des Phantoms und der Attentäter sprechen doch auch dafür. Und dann war da noch dieses Gespräch zwischen Crow und diesem Tech, das Sie und der Major belauscht haben.«
»Das waren nur Gesprächsfetzen, ich habe so gut wie nichts gehört.«
»Der Major allerdings schon.«, sagte Walker. »Liegt wahrscheinlich an seinem künstlichen Gehör. Worauf ich hinauswill: Crow ist in meinen Augen entweder nur eine Marionette oder er ist eine absichtlich aufgebaute Figur in einem großen Schachspiel. Jemand benutzt ihn. Und ich bin mir sicher, dass dieselben Leute sowohl für das Attentat auf den Rat als auch für Ihre missliche Lage verantwortlich sind.«
»Aber wer sollte das wollen?«, fragte Sethi misstrauisch.
»Dieselbe Frage hat mir der Major auch gestellt.«, antwortete Walker. »Konzerne, Regierungen oder mächtige Einzelpersonen, denen nicht gefällt, dass der Rat immer mehr an Kontrolle gewinnt. Womöglich sogar einzelne Gruppierungen innerhalb des Rates, die mehr Einfluss wollen und sich dadurch einen Machtwechsel erhoffen.«
»Kann ich mir kaum vorstellen.«
»Wenn Sie jahrzehntelang als Polizist gearbeitet hätten, wüssten Sie, dass eine Menge Menschen keinerlei Gewissen haben und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Es sind nicht die kleinen Verbrecher, von denen die Gefängnisse voll sind, vor denen man sich fürchten muss.«
Eine Zeit lang schwiegen sie beide, während das Sozialmodul jede noch so minimale Bewegung ihres Körpers und jede winzige Regung ihres Gesichts aufzeichnete und analysierte. Bisher funktionierte alles wie erwartet. Aus dem sonst vereisten Gesicht war ein nachdenkliches geworden, mit einem Hauch von Schwermut.
»Sehen Sie sich doch um, die Angst vor den Aufständen verbreitet sich rasant. Während das geschieht, klingeln die Kassen bei den Waffenherstellern und den privaten Sicherheitskonzernen. Blackhammer und all die anderen Söldnertrupps hatten noch nie eine so große Nachfrage. Sie suchen alle ständig nach neuen Mitarbeitern.«
»Aber wenn die Aufstände außer Kontrolle geraten, was dann?«, fragte Sethi. »Wenn der Rat und Chaos die eigentlichen Ziele sind, wird dadurch die Ordnung zusammenbrechen.«
»Die Gefahr besteht, aber es würde auch bedeuten, dass einige mächtige Staaten wieder zu alter Stärke zurückfinden könnten, ohne auf die Problemstaaten Rücksicht nehmen zu müssen, die für ihr Schicksal dann einmal mehr selbst verantwortlich wären.«
Zwischen ihren perfekt symmetrischen Augenbrauen hatte sich eine schmale Falte gebildet.
»Sie glauben also wirklich, dass jemand skrupellos genug wäre, um so etwas zu bewerkstelligen?«
»Wenn es um den eigenen Machterhalt geht, gehen die Menschen über Leichen. Nur hier eben im großen Stil.«, sagte Walker und nahm einen Schluck aus seinem Glas. Wie üblich hatte der Alkohol nicht den geringsten Effekt auf ihn.
»Wussten Sie, dass der Rat seit Monaten an einer neuen Resolution arbeitet?«
»Nein.«, sagte Sethi.
Walker hatte das Gefühl, bis zu einem gewissen Grad zu ihr durchgedrungen zu sein. Die eiserne Maske ihrer Selbstbeherrschung, mit der sie alle auf Distanz hielt, war ein Stück weit zurückgeglitten. Wenn er sie jetzt betrachtete, erkannte er zwischen den makellosen Zügen eine bedrückte, geschlagene junge Frau.
»Angeblich soll diese Resolution die größten Änderungen seit Gründung des Weltrats mit sich bringen. Gerüchten zufolge soll der Kern dieser Resolution ein besseres Gleichgewicht zwischen Armen und Reichen schaffen, das weit über das Food-for-All-Programm hinaus geht.«
»Aber das sind nur Gerüchte.«
»An Gerüchten ist immer auch etwas Wahres dran.«, sagte Walker. »Und wenn diese Leute so mächtig sind wie ich glaube, werden sie genau wissen, was in dieser Resolution stehen soll. Eine Umverteilung des Reichtums bedeutet immer auch, dass jemand verliert.«
»Das wäre also der perfekte Zeitpunkt, um den Rat zu schwächen, damit er keine Unterstützung mehr für seine Resolution bekommt.«
»Genau so ist es.«
Sethi dachte angestrengt über Walkers Worte nach.
»Aber selbst wenn Ihre Theorie zutrifft, was sollten wir dagegen tun?«, fragte sie schließlich. »Wir haben doch keine Chance zu zweit.«
Walker beugte sich ein wenig vor, damit er Sethi näher kam. Sein Blick wurde eindringlicher, die Augenbrauen wanderten nach oben.
»Haben Sie das dem Major auch gesagt, als Sie sich mit ihm alleine im Feindesgebiet wiederfanden?«
Sethi senkte ihren Blick und nahm ihren Drink auf ex. Walker beobachtete sie mit einem schrägen Lächeln.
»Ehrlich gesagt habe ich genau auf diese Frage gewartet, denn sie bedeutet, dass Sie bereit sind, etwas zu unternehmen.«, sagte er. »Zuerst einmal müssen wir beweisen, dass Sie und der Major unschuldig sind.«
»Und was, wenn der Major doch nicht unschuldig ist?«, fragte sie. »Wenn es nichts zu beweisen gibt?«
»Sie wissen, dass Major Reeves reingelegt wurde.«
»Alle Beweise sprechen das Gegenteil. Seine Implantate haben alles in Echtzeit aufgezeichnet. Ich habe die Aufzeichnungen gesehen, weil ich über ihn und unsere Zusammenarbeit befragt wurde. Er hat ohne Rücksicht auf eine Gruppe Zivilisten wie wild um sich geschossen. Es war ein Massaker.«
»Glauben Sie allen Ernstes, Major Reeves wäre zu dieser Tat fähig?«, fragte Walker. »Glauben Sie wirklich, dass dieser Mann einfach wahllos Unschuldige abschlachtet?«
»Es stellt sich nicht die Frage, was ich glaube, die Beweise sprechen für sich.«
Walker lachte gequält.
»Beweise, was sind schon Beweise? Gerade Sie müssten doch erkennen, dass Beweise so viel wert sind wie Hundescheiße vor der Wohnungstüre. Manchmal werden sie einem so deutlich vor die Füße gesetzt, dass es einfach nur stinkt. Ich arbeite schon so lange in diesem Geschäft und weiß, dass man Beweisen nicht immer blind vertrauen sollte.«
»Wie Sie meinen.«, tat Sethi seine Worte ab, während sie aus dem Fenster sah, wo die hellen Türme von City One ihren Anfang nahmen und sich schier endlos in den Himmel erstreckten.
Walker lehnte sich wieder zurück und betrachtete neugierig ihr hübsches, angespanntes Profil.
»Haben Sie wirklich so wenig Achtung vor dem Major, dass Sie selbst das Offensichtliche nicht sehen wollen?«
Sethi antwortete nicht.
»Der Major hat Ihnen nicht nur das Leben gerettet, sondern Sie auch in sein Team aufgenommen. Sie sagten, niemand hätte Sie je ernst genommen. Niemand außer dem Major, nicht wahr?«
Walker ließ seine Worte eine Weile wirken, ehe er die entscheidende Frage stellte.
»Oder hat er Ihnen jemals das Gefühl gegeben, nur eine Muschi auf zwei Beinen zu sein?«
Sethi zögerte mit einer Antwort, was schon Antwort genug war.
»Nein, das hat er nicht.«, beantwortete Walker die Frage. »Der Major scheint ein zäher Kerl zu sein, aber auch ein guter Mann. Er ist der Typ von Mann, der sowohl ein Ratsmitglied als auch seine verletzte Kameradin aus dem Feindesgebiet schafft. Er ist der Typ von Mann, der niemanden zurücklässt. Er wollte mich daran hindern, den Attentäter zu hart ranzunehmen. Das tut kein Mann, der wahllos Unschuldige opfert.«
»Woher wissen Sie das alles überhaupt?«
Walker winkte ab.
»Ist das denn wichtig? Ich weiß es einfach.«
Er hatte beinahe sein gesamtes Kontingent an Gefallen einfordern müssen, um an all diese Informationen zu gelangen.
»Und was ist mit dem Massaker, als er noch bei Blackhammer gewesen ist?«, fragte sie weiter. »Es scheint, als wäre er sehr wohl dazu fähig.«
»Ich habe nie behauptet, der Major wäre ein Heiliger.«, antwortete Walker. »Keiner von uns ist das. Wenn es wahr ist, wird er seine gerechte Strafe früher oder später erhalten. Aber bevor ich es nicht aus seinem eigenen Mund gehört habe, glaube ich die Geschichte nicht und Sie sollten es auch nicht tun. Außerdem geht es hier um die Sicherheit des Rats und womöglich auch um Millionen Menschenleben, die durch diesen Konflikt bedroht sind. Da nehme ich die Schuld dieses Mannes gerne in Kauf.«
»Na gut, aber selbst wenn es stimmt, dass der Major unschuldig ist, was sollten wir beide dagegen unternehmen?«, fragte sie, ohne ihr Misstrauen abzulegen. Doch in ihrer Stimme schwang etwas mit, das Walker und sein Modul vorsichtig als Hoffnung interpretierten. »Ich bin auf unbestimmte Zeit suspendiert und kann froh sein, mich in City One noch frei bewegen zu dürfen. Und Sie haben keinerlei Befugnisse hier.«
»Deswegen brauche ich Ihre Hilfe.«
»Haben Sie etwa schon einen Plan?«
»Eigentlich war der Plan, Sie zum Reden zu bringen und darauf aufzubauen.«
»Dumm gelaufen.«
Walker wog den Kopf hin und her und nickte dann.
»Stimmt.«, sagte er. »Aber Sie wissen bereits, was wir tun müssen.«
Ihr Gesichtsausdruck wies darauf hin, dass ihr die Idee nicht gefiel.
»Und wie wollen Sie das anstellen?«
»Genauso wie ich Sie hierher gelockt habe.«, sagte Walker und lächelte.

Kapitel 3 (Gesamter Text)

3 – Zero Signal

Zone: The Beach

Nyx fand sich am Strand wieder, an dem sie Ree das erste Mal getroffen hatte. Viele Zoner genossen das glasklare Wasser und den nie endenden, prachtvollen Sommertag. Nyx sah sich angespannt nach allen Seiten um. Doch außer den unzähligen nackten Körpern von makellosen Avataren war nichts Auffälliges zu entdecken.
Nyx zwang sich zur Ruhe. Ree konnte unmöglich bereits hier sein, also suchte sie einen freien Platz am Strand, auf dem sie sich schließlich niederließ. Sie spürte den warmen Sand unter ihren Fußsohlen und die wärmenden Strahlen der Sonne auf ihrem Gesicht, was sie etwas beruhigte. Nach der Konfrontation mit Ree hatte sie die Tage damit verbracht, ihr Wissen über künstliche Intelligenz auf den letzten Stand zu bringen. Jede freie Minute hatte sie den Frame nach brauchbaren Informationen durchforstet. Doch eine so hoch entwickelte KI wie Ree schien nur als ideale Theorie zu existieren. Dennoch hatte Nyx einiges gelernt, angefangen von der Singularität über den Turing Test bis zu den unterschiedlichen Konzepten, wie Programmierer die perfekte KI erschaffen wollten.
Mit dem neu gewonnenen Wissen hatte sie alle ihre Sicherheitsmethoden und -mechanismen komplett überarbeitet. Drei lange Tage und Nächte hatte es gebraucht, in denen Nyx nur gelegentlich geschlafen hatte. Doch es hatte sich gelohnt. Diesmal würde sie nicht von Ree überrascht werden. Nyx kannte ihre eigenen Fähigkeiten und sie wusste nun auch, womit sie konfrontiert war. Das erste Mal war sie von der Situation überrumpelt worden, das würde kein zweites Mal geschehen.
Dennoch blieb ein Rest Nervosität. Fragen kreisten in ihrem Geist wie ein Schwarm Geier um ein totes Tier. Immer wieder stürzte einer von ihnen herab und baute sich vor ihr auf. Wie lange würde Ree wohl diesmal benötigen, um sie zu finden? Würde sie überhaupt kommen, nachdem Nyx sie bei ihrem letzten Zusammentreffen einsperren hatte wollen? War Ree ihr wohlgesonnen oder eine Falle ihrer ehemaligen Peiniger? Trotz der Sorge stand über allem die Hoffnung, endlich etwas über ihre Vergangenheit und Hort 33 herauszufinden. Der Wille, Betty und die anderen Kinder zu finden, war stark genug, sich den eigenen Ängsten zu stellen.
Nyx schloss die Augen und rief sich die Gestalt von Betty ins Gedächtnis. Der hagere, schwächliche Körper des Mädchens mit der hellen, beinahe transparenten Haut formte sich zu einer nahezu perfekten Erinnerung.
Nyx war plötzlich wieder fünf Jahre alt und befand sich in einem Waisenheim. Sie war eines von vielen Kindern, die keine Eltern hatten und die vergeblich darauf hofften, von einer Familie aufgenommen zu werden. Wie die meisten anderen hatte sie ihre Eltern nie kennen gelernt und wusste auch nichts über sie. Für Nyx waren Mutter und Vater kaum mehr als fremdartige Begriffe, ohne jeglichen emotionalen Bezug. Nyx schien es, als sei sie einfach in einer dunklen Gasse erwacht, ohne Familie, ohne Zuhause und ohne Zukunft – wie ein Avatar, der sich plötzlich aus dem digitalen Nichts einer Zone schält. Sie war von der grauen Realität zur Welt gebracht worden. Obwohl sie die Zusammenhänge nicht verstand, spürte sie dennoch das Fehlen von etwas Unbestimmtem.
Das Heim wurde zu ihrer Heimat, zu Hause fühlte sie sich dort aber nie. Sie lernte schnell, dass da Mutter und Vater sein sollten, die sie beschützen und lieben sollten. Ein frommer Wunsch, den alle Kinder teilten. Ein abstraktes, zum Ideal stilisiertes Konzept, von dem ehrfurchtsvoll geflüstert wurde. Doch die Realität hielt den Vorstellungen und Hoffnungen nur selten stand. Nyx war eine unter vielen Waisen, die sich um die Aufmerksamkeit der wenigen erwachsenen Bezugspersonen stritten. Die Konkurrenz war groß.
An ihrem fünften Geburtstag lernte Nyx, dass es so etwas wie Vertrauen nicht gab. Die Vorfreude auf den versprochenen Ausflug, den man nur mit ihr unternehmen wollte, raubte ihr in der Nacht davor den Schlaf und gab ihr dennoch Energie. Aufgeregt stieg sie in den Wagen, trank einen Schluck und freute sich auf das Kommende, bis die Welt um sie herum schwarz wurde. Ihre Hoffnungen zerbarsten in dem Moment, in dem sie in einer fremden Umgebung erwachte. Von der Abfahrt vom Waisenhaus bis zur Ankunft im Hort 33 hatte sie keinerlei Erinnerungen, egal wie sehr sie sich darauf konzentrierte. Es war, als hätte jemand die Erinnerungen in ihrem Kopf wie Dateien gelöscht.
Und so landete sie in ihrem neuen Gefängnis, als Mädchen, das noch so gut wie nichts über die Welt wusste, außer der Tatsache, dass sie furchtbar einsam war. Umgeben von unbekannten Gesichtern und dem kalten Empfang in Hort 33 spürte sie das erste Mal die verzehrende Leere der Verzweiflung, die sie all die Jahre in Gefangenschaft bekämpfen würde, bis nichts mehr von ihrer Kindlichkeit übrig bleiben sollte.
Am Tag nach ihrer Ankunft im Hort lernte sie Betty und die anderen Kinder kennen. Sie waren alle im selben Alter wie Nyx und in derselben Situation: ängstliche Waisenkinder, die niemanden hatten und die niemandem fehlten. Menschen, die es offiziell nicht gab, die in keiner Datenbank oder Statistik aufschienen und keinen ID-Chip trugen. Für das System waren sie Geister, nicht existent. Über all die Tränen und den kollektiven Kummer hinweg versuchten die Aufpasser ihnen klarzumachen, dass sie etwas Einzigartiges seien und es nun besser hätten. Doch für Fünfjährige waren diese Worte wie Schall und Rauch im Angesicht der plötzlichen Veränderung.
So vergingen die Jahre im Hort 33, während Nyx Dinge lernte, die kein Kind in diesem Alter lernen sollte. Wo andere Geschichte paukten musste sie Grundlagen der Computertechnologie verinnerlichen. Während normale Kinder für ihre Eltern Vogelhäuschen zimmerten, bauten sie Konsolen zusammen. Schon mit sechs Jahren konnte Nyx die meisten Computer auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Der Alltag war geprägt von strenger Ordnung und Disziplin. Freiheit war nur eine Illusion, genauso wie das inhaltlose Versprechen einer großen Zukunft. Ihre einzigen Kontakte mit der Außenwelt blieben lange Zeit die Erwachsenen, die eine professionelle Distanz zu ihnen wahrten. Nur gelegentlich bekamen sie begrenzten Zugang zum Frame.
Die Wahrheiten der Welt blieben ihnen ebenso verborgen wie die Wahrheit über ihren eigenen Zweck in eben dieser Welt. Die modernen Einrichtungen, die teuren Geräte und die hübschen Zimmer trösteten nicht über die Tatsache hinweg, dass Hort 33 ein Ort der Kälte war, an dem manches Kind zugrunde ging. Das leise Schluchzen der anderen in den endlos langen Nächten schien als Echo in Nyx Ohren gefangen zu sein. Sie beobachte, wie ein Mädchen – ihr Name war Amanda – gleich einer Blume im Angesicht der Herzlosigkeit verwelkte. In einer Nacht kamen sie und nahmen sie einfach mit. Nyx sah sie nie wieder. Niemand sprach darüber.
Heute wusste Nyx, dass es Amanda nicht mehr gab. Man hatte sie aussortiert wie einen missgestalteten Welpen aus einem Wurf. Die Angst hatte sich unter den anderen Kindern dann wie ein Computervirus verbreitet. In den folgenden Nächten kamen Trauer und Verzweiflung nur noch mit stillen Tränen über sie.
In jener Zeit schwor Nyx alles zu tun, diesem Gefängnis zu entfliehen. Ein Entschluss so mächtig, dass er sie all die kommenden Jahre am Leben hielt, während das Wort Vertrauen immer mehr an Bedeutung verlor. Sie schloss die Tür zu ihren Emotionen und warf den Schlüssel weg. Gleichzeitig verbesserte sie mit aller Kraft ihre Fähigkeiten. Während sich die anderen Kinder im Hort zusammentaten, um ein wenig gegenseitige Menschlichkeit und Unterstützung zu finden, blieb sie allein und begab sich absichtlich ins Abseits. Sie musste besser werden, stärker und härter, nur dann hatte sie eine Chance, ihrem Gefängnis zu entrinnen.
Doch obwohl Nyx alles dafür tat, sich abzukapseln, konnte sie nicht verhindern, dass sich dieses eine, schwache Mädchen an ihre Fersen heftete. Betty war eines der Kinder, von denen Nyx glaubte, es würde als nächstes verschwinden und nie mehr auftauchen. Aber irgendwie schaffte sie es durchzuhalten. Nyx war ungefähr neun, da stieß sie Betty immer wieder weg, beleidigte sie und wollte nichts von ihr wissen. Trotz der geballten Ablehnung suchte Betty weiter ihre Nähe. Schweigend und mit der übermenschlichen Geduld eines Engels ertrug sie die Schikanen und folgte Nyx überall hin, als ob nur sie etwas in ihr sehen konnte, das allen anderen verborgen blieb. Eines Nachts, Nyx lag wach, kam Betty an ihr Bett und sah sie mit diesen großen, traurigen Augen an, die ihr Gesicht beherrschten.
Später konnte Nyx nicht mehr sagen, wieso sie ein Stück zur Seite gerückt war, um Betty unter ihre Decke zu lassen. Sie wusste nur noch, wie ihr junger Körper die wärmende Nähe mit einem fast vergessenen Gefühl von Glück aufgenommen hatte. Für eine kurze Zeit war es, als ob die Kälte der Welt nicht mehr existieren würde. Und so entwickelte sich eine zaghafte Freundschaft zwischen den ungleichen Mädchen.
Nyx verstand bis zum heutigen Tag nicht, wieso sich Betty an sie gewandt hatte. Vielleicht hatte sie ihre ablehnende Art, ihr ständiges Alleinsein als Stärke interpretiert, an der sie sich festhalten konnte. Nyx war entschlossen, ihr diese Frage eines Tages selbst zu stellen.
Sie löste sich von den Bildern ihrer Vergangenheit als Ree den Strand betrat und ohne Umweg auf sie zusteuerte. Wie immer trug die KI in Frauengestalt das weiße, dünne Kleid, das ihren hübschen Körper wie feiner Rauch umwehte. Das Herz in Nyx‘ Brust begann zu pochen. Die Erinnerung an das unangenehme Gefühl, als ihr Maschinenbewusstsein die künstliche Intelligenz berührt hatte, sickerte in ihren Verstand und nährte den Fluchtreflex. Doch Nyx widerstand und erhob sich von ihrem sandigen Platz.
Das Gesicht der KI ließ wie immer keine Schlüsse auf das zu, was hinter ihrer Programmierung ablief. Ree wirkte wie ein Mensch, dem man einen elementaren Teil seiner Menschlichkeit geraubt hatte. In einem Meter Entfernung blieb sie stehen und lächelte ihr undurchsichtiges Lächeln.
»Ich möchte nur reden.«, sagte Nyx.
»Das freut mich.«, antwortete Ree.
Nyx erwartete, dass sich die Zone plötzlich verändern und alle anderen Zoner verschwinden würden, doch nichts dergleichen geschah. So gewann sie rasch ihr Selbstvertrauen zurück.
»Ich möchte deinen Meister, diesen Phobos, treffen.«, sagte sie und sprach hastig weiter. »Aber ich habe ein paar Bedingungen.«
»Natürlich, an welche Bedingungen hast du gedacht?«
Nyx versuchte, ihrem Ton etwas zu entnehmen, doch da war nichts – keine Wut, kein Zorn, kein Hass. Auch sonst kein Gefühl, nur eine leere Stimme ohne tiefere Bedeutung, gleich Rohdaten auf einem Bildschirm.
»Erstens,«, begann Nyx, »hoste ich die Zone, in der wir uns treffen. Und zweitens möchte ich mich alleine mit ihm treffen. Ich will nicht, dass du dabei bist.«
»Du musst dich nicht vor mir fürchten.«, sagte Ree, als hätte sie die Gedanken von Nyx gelesen.
»Ich fürchte dich nicht, ich will nur sicher gehen, dass ich außer Gefahr bin. Die Leute, die mich verfolgen, hätten mich vor kurzem beinahe getötet.«, erklärte Nyx. »Und so ein Erlebnis möchte ich nach Möglichkeit vermeiden.«
Ree präsentierte ihr leises Lächeln und nickte langsam.
»Ich verstehe.«, sagte sie. »Ich werde deine Bedingungen meinem Meister übermitteln. Erwarte mich in Kürze zurück.«
»Einverstanden.«, sagte Nyx und verfolgte, wie sich Ree dem Ausgang der Zone näherte. Dann löste sie sich auf und war verschwunden.
Nyx seufzte erleichtert und sah zu wie sich ein junges Paar im klaren, smaragdgrünen Wasser liebte. Es war, als würde der Akt in Zeitlupe ablaufen. Dieser Anblick war hier keine Seltenheit und nur wenige beobachteten die Verbindung der beiden. So etwas wie Scham kannten in den Zones nur die Anfänger.
Nyx war überrascht, als Ree innerhalb kürzester Zeit wieder auftauchte. »Das ging ja schnell.«
»Zeit ist relativ.«, antwortete Ree so mysteriös, wie es ihre gesamte Existenz war. »Mein Meister akzeptiert die Bedingungen, allerdings hat er selbst auch eine.«
»Und die wäre?«, wollte Nyx misstrauisch wissen.
»Er übermittelt dir die Daten der Zone, die du hosten wirst. Die primäre Entität wird diese dann als erste besuchen und sich vergewissern, dass du keine Fallen eingebaut hast.«
Nyx wollte etwas einwenden, doch dann wurde ihr klar, dass sie Ree bei ihrem letzten Treffen eingesperrt hatte. Ihr Meister wusste bestimmt davon und würde nicht so dumm sein, selbst in eine Falle zu laufen.
»Die primäre Entität?«, fragte Nyx. »Du meinst die Haupt-KI?«
»Ein anderer Teil von ihr.«, antwortete Ree. »Ich bin eine von vielen Entitäten und wurde nur für den Zweck konzipiert, dich aufzuspüren und mit dir zu kommunizieren.«
Nyx dachte eine Weile über die Bedingung nach. Wenn er ihr die Zone übermittelte, konnte sie selbst den Code auf Besonderheiten untersuchen. Es klang nach einem fairen Deal.
»Ich werde mir die Zone aber zuvor genau ansehen.«, stellte Nyx klar. »Das bedeutet, ich brauche so lange, wie es dauert.«
»Natürlich.«, sagte Ree. »Aber auch mein Meister muss an seine Sicherheit denken. Du musst das verstehen.«
»Klar doch.«, sagte Nyx und dachte an den genialen Code der KI.
Im Notfall, da war sie sich sicher, würde Ree sofort eingreifen. Doch wenn Nyx die Zone stellte, hatte sie die Kontrolle und die neuen Sicherheitsmaßnahmen würden es der KI nicht einfach machen. Es bestand also keine große Gefahr für sie. Der Plan klang nach einem akzeptablen Kompromiss für beide Seiten. Und wollte sie Antworten bekommen, musste sie dieses Risiko eingehen. Außerdem war es nicht das erste Mal, dass sie für die Chance auf Gewissheit etwas riskierte.
»Gut, so machen wir es.«, sagte Nyx. »Ich erwarte die Daten der Zone. Wir treffen uns wieder hier, wenn ich für deinen Meister bereit bin.«
»Einverstanden.«, sagte Ree. »Ich werde sofort alles in die Wege leiten.«

City One – Atlantik

Bis auf einen einzelnen Stuhl aus Metall und einen handlichen Störsender war der unterirdische Lagerraum vollkommen leer. Er lag tief im Bauch von City One verborgen, fern von jeglicher Zivilisation und auf den Karten kaum erkennbar. An diesen Ort verirrten sich maximal Wartungstechniker. Vor einer Stunde hatte sich Walker gewaltsam Zutritt zu dem Raum verschafft. Hier würde sie niemand finden oder hören.
Er konnte das Vibrieren der gigantischen Motoren der schwimmenden Stadt unter sich spüren. Gelegentlich waren auch undefinierbare, metallische Geräusche zu vernehmen, als wäre er im Verdauungstrakt einer riesigen Bestie gefangen. Staubpartikel tanzten im kalten, weißen Licht zweier Leuchtstoffröhren. Die Luft war kühl und abgestanden. Walker lehnte an der Wand und atmete den Tabak seiner Zigarette ein, die bereits zur Hälfte heruntergebrannt war. Die Zeitanzeige vor seinen Augen teilte ihm mit, dass Sethi seit einer halben Stunde überfällig war. Er fragte sich, ob sie doch noch einen Rückzieher gemacht hatte. Die Frau war schwer einzuschätzen. Womöglich hatte der Plan auch nicht geklappt und ihr war etwas zugestoßen. Walker ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Er nahm einen Schluck aus seinem Flachmann und verstaute ihn anschließend wieder in einer Manteltasche. Dann füllte er seine Lungen mit Rauch.
Das Aufglühen der Zigarette spiegelte sich auf den glatten, schwarzen Fingern seiner Hand wider. Sie diente ihm lediglich als Genussmittel, schaden konnte sie ihm ohnehin nicht. Seine künstlichen Lungen filterten die Gifte zu hundert Prozent aus dem Luftgemisch, sodass sie seinen Blutkreislauf gar nicht erst erreichten. Zu seinem Leidwesen eliminierte auch sein künstlicher Verdauungstrakt jede Art von Giftstoff.
Walker starrte sehnsüchtig auf seinen Flachmann, als wäre der Whiskey in seinem Inneren nur ein leeres Versprechen, eine Erinnerung an etwas, das er vor langer Zeit verloren hatte. Nichts war mehr so wie früher und es würde auch nie mehr so sein. Offiziell hatte ein Unfall vor fast sechs Jahren zu seiner Transformation in einen Cyborg geführt. Die Untersuchungen zur Unfallursache wurden von der Polizei in einem Schnellverfahren abgewickelt. Betrunkener Autofahrer, Frontalcrash, ein Toter, ein Schwerverletzter. Der Schuldige war tot, Fall abgeschlossen. Doch jeder wusste, dass der Vorfall mit einem Unfall ungefähr so viel gemein hatte wie Polycarbonat mit echter Haut.
Walker konnte sich heute noch an jedes Detail der Nacht erinnern. Die Erinnerungen waren mit der Wucht des Aufpralls in sein Gedächtnis gestanzt worden und hatten dabei auch sein gesamtes Denken verschoben. Walker sah deutlich, wie der andere Wagen aus dem Nichts auftauchte, ohne Lichter, nahezu unsichtbar. Ihm blieb gerade genug Zeit, um das Unausweichliche zu registrieren. Dann ein kurzer, explosionsartiger Lärm, gefolgt von einer Welle unerträglicher Schmerzen. Die ganze Szene dauerte kaum länger als ein paar Sekunden. Doch in diesem flüchtigen Moment schien sich die Zeit endlos zu dehnen. Er spürte, wie seine Knochen wie Holzstäbchen brachen, seine Organe von dem deformierten Autowrack zerquetscht wurden und seine Gliedmaßen rissen, als bestünden sie aus Papier. Er erlebte all das mit einer erschreckenden Klarheit, die ihm beinahe den Verstand raubte. Erst dann legte sich die rettende Bewusstlosigkeit wie ein Leichentuch über ihn.
Alles, was danach geschah, passierte weit außerhalb seiner Wahrnehmung. Was blieb, war die Erkenntnis, dass er an diesem Tag hätte sterben sollen. Doch seine Schwester Joana entschied anders. Man kratzte seine zerfetzten Überreste aus dem Autowrack und brachte sie in eine Spezialklinik, wo Joana die besten Techspezialisten und Ärzte der Welt auf das fleischliche Puzzle ansetzte. Niemand stellte je die Frage, ob er überhaupt weiterleben wollte. Für sie war Walker ein lukratives und aufschlussreiches Experiment. Das Motto: Wie viele Techs verträgt ein menschlicher Körper, ohne zu versagen. Welchen Belastungen kann man ihn aussetzen, ehe er am Gewicht der synthetischen Teile zusammenbricht. Legal war an der gesamten Prozedur nichts, so wenig wie ein Gutteil der verbauten Implantate.
Walker bemerkte nichts von den wochenlang dauernden Bemühungen der besten Experten, ihm wieder Leben einzuhauchen. Er spürte nicht, wie sie ihm die Reste der zerfetzten Gliedmaßen fein säuberlich abtrennten, wie sie ihm das verbrannte und aufgeplatzte Fleisch entfernten und einen Großteil seiner Organe durch modernste Hardware ersetzten, während eine Maschine sein Gehirn mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgte. All diese Ereignisse wurden von angenehmen Erinnerungen überlagert, die wie in einer Dauerwerbesendung für besseres Wohnen vor seinem inneren Auge abliefen. Gefangen in dieser induzierten Endlosschleife sah er wieder und wieder das lächelnde Gesicht von Amelie, der Frau, die er liebte. Er erlebte dieselben wunderbaren Stunden jedes Mal aufs Neue, als wollte sein Geist ihn vor dem schützen, was die Außenwelt für ihn bereithalten würde. Für eine Weile war es, als wäre er gestorben und im Himmel gestrandet.
Später konnte Walker nicht mehr sagen, ob dieser Zustand permanenter Zufriedenheit eine Nebenwirkung der vielen Medikamente gewesen war oder ein Mechanismus seines Gehirns. Bei all den Zweifeln an der körperlichen Widerstandsfähigkeit und den unzähligen technischen Herausforderungen blieb offenbar nicht genügend Zeit, an die Psyche des Testsubjekts zu denken. Niemand bereitete ihn auf den Tag vor, an dem er aus dem monatelangen Koma erwachte. Mit dem Gefühl der Wärme von Amelies Körper auf seiner Haut und ihrem Lächeln vor seinen Augen kam Walker zu sich. Hinausgeworfen aus der behaglichen Illusion seiner Erinnerungen, hinein in einen lebendigen Alptraum. Sein Bewusstsein bootete in eine einzelne Explosion aus Bildern und Empfindungen. Die Splitter regneten in Gestalt spitzer, schmerzhafter Erinnerungsfragmente auf ihn herab. Er durchlebte den Zusammenprall abermals, fühlte wie sein Körper von der Wucht erfasst und in Stücke gerissen wurde. Dann folgte Dunkelheit und mit ihr eine Form der Angst, wie er sie nie zuvor erlebt hatte. Sie kam auf der Wellenlänge des Schmerzes, existentiell und animalisch.
Obgleich sein Verstand wach war, waren es seine Sinne nicht. Mit deaktivierten Implantaten lag er da, die Essenz eines Menschen in ein halb totes Ding gepflanzt. Walker war abgekapselt, als hätte man sein Bewusstsein in eine schwarze Box verbannt, ohne Zugang zur Außenwelt. Er hörte nichts, sah nichts, fühlte nichts. Kein Gefühl der Körperlichkeit, kein Anzeichen dafür, dass er noch lebte außer der Aktivität seiner eigenen Gedanken. Er versuchte sich zu bewegen, versuchte seine Situation zu erfassen, jedoch vergeblich. Der fatalen Wirkung der absoluten Reizlosigkeit ausgesetzt, sickerte die Panik tröpfchenweise in seinen Verstand und vergiftete ihn unaufhaltsam mit Wahnsinn. Walker konnte nicht sagen, wie lange er innerlich geschrien hatte. Die Ärzte behaupteten später zwar, es hätte sich nur um wenige Minuten gehandelt, ehe sie ihn aus seiner misslichen Lage befreit hatten, doch für ihn war es eine Ewigkeit in der Hölle gewesen.
Nachdem sie seine Hardware hochgefahren hatten, kehrten auch seine Sinne zurück. Träger, ätzender Schmerz quälte sich durch den neuen Körper. Die vielen Signale der Implantate entzündeten einen Flächenbrand in seinen Neuronen. Mit dumpfer Wahrnehmung saß er auf dem Bett, in dem er Monate verbracht hatte und starrte ungläubig auf die schwarzen Prothesen, in deren glatter Polymerpanzerung sich das Licht spiegelte. Stundenlang redeten die Ärzte auf ihn ein, erklärten ihm alles, stellten ihm Fragen und machten ihn mit seiner neuen Situation vertraut. Sie sprachen von einem medizinischen und technischen Wunder, redeten davon, wie einzigartig er war und welches Glück er hatte, noch zu leben. Doch all das weise Lächeln und die endlose Geduld der Ärzte konnten ihn nicht über das hinwegtrösten, was danach folgte.
Walker erfuhr nie, wie lange Amelie in seinem Namen gefoltert worden war, ehe sich irgendein Arschloch erbarmt und ihr die Lichter ausgeknipst hatte. Die verbrannten und verstümmelten Reste ihres Leichnams waren längst begraben. Diese wunderbare, liebevolle Frau war zu einer Anhäufung organischen Materials geworden, die nun in einer Holzkiste verrottete. Amelie war tot, seinetwegen. Das letzte Gefühl, das sie vor ihrem Tod für ihn empfunden haben musste, konnte nichts anderes als purer Hass gewesen sein. Er stellte sich vor, wie sie stundenlang nach ihm gerufen hatte, in der Hoffnung auf Rettung. Doch er war nie gekommen. Ihre Liebe zu ihm war Stück für Stück am Wahnsinn der grässlichen Schmerzen zugrunde gegangen, daran zweifelte Walker keine Sekunde, auch wenn es keinerlei Beweise dafür gab. Diese Erkenntnis raubte ihm beinahe den Verstand.
In den darauffolgenden Monaten starb er ein ums andere Mal, ohne richtig tot zu sein. Er wandelte durch die Welt, ohne Ziel und ohne Bestimmung, wie eine Maschine, die ihre ursprüngliche Funktion vergessen hatte. Darüber hinaus blieb auch die Begeisterung über seine Rückkehr aus. All jene, die ihn im Stich gelassen hatten, sahen in ihm nun den Spiegel ihrer eigenen Schuld. Sein Anblick erinnerte sie an ihre Feigheit. Freunde wie Kollegen hielten gleichermaßen Abstand zu ihm, als wäre er eine ansteckende Krankheit. Er spürte die argwöhnischen Blicke auf sich, hörte die Fragen, die sie sich hinter vorgehaltenen Händen zuflüsterten.
Wie konnte er nach diesem Horrorcrash noch am Leben sein, während andere in ihren Duschen ausrutschten und von einer Sekunde auf die nächste einen unspektakulären, einen unnötigen Tod starben?
Was war von Garreth Walker übrig geblieben? War er überhaupt noch ein Mensch? Wie konnte er nach all dem weiter machen und vor allem, würde er sich für ihre Tatenlosigkeit an ihnen rächen?
Fragen, die sich Walker irgendwann selbst stellte.
Er war zu einem Fremdkörper geworden, nicht nur in seinem Körper, sondern ebenso in der Welt. Nichts war mehr so wie früher. Die Wohnung war leer, nur der Hauch des Todes war geblieben, hatte sich in jedem Möbelstück festgesetzt und in jedem Kleidungsstück, das noch an Amelie erinnerte. Die vielen Techs in seinem Körper setzten sowohl seinem Gehirn als auch seinem Verstand zu. Gefangen zwischen dem Gefühl, nicht mehr zu existieren und gleichzeitig zerrissen zu werden, versucht er sich an den kalten Stahl und das leblose Plastik zu gewöhnen, das nunmehr einen Großteil seiner Existenz ausmachte. Nicht einmal einen Herzschlag spürte er, als wäre er nur ein lebender Toter. Ein High-Tech-Zombie, der nicht einsehen wollte, dass er schon lange tot war. Er war zum wandelnden Beweis für das technisch Machbare geworden. Für die Spezialisten war er ein medizinischer und technologischer Erfolg auf zwei Beinen, von dem die Öffentlichkeit in dieser Form allerdings nie erfahren durfte. Die Veränderungen in seinem Inneren waren hingegen viel weitreichender. Die Verbitterung zersetzte all das, was Detective Garreth Walker einmal ausgemacht hatte. Gleich einem Nervengift floss es durch seine synthetisierte Blutbahn. Alles, was Amelie gehört hatte, verging in den Flammen. Dann beerdigte er die Vergangenheit zusammen mit den Erinnerungen an Amelie und begrub sie so tief in seiner Psyche, dass sie kaum mehr Teil von ihm waren. In Folge setzte er ein neues Ich in die mechanische Festung seiner neuartigen Existenz: Deathwalker.
All der Idealismus, diese Kraft, immer das Richtige zu tun, und nach den Regeln zu spielen, blätterte von ihm ab wie die Haut von seinem alten Körper. Zum Vorschein kamen ein grimmiger Zynismus und ein veränderter Blick auf die Welt. Joana, seine Schwester hatte keine Kosten und Mühen gescheut, um sein Leben zu retten. Auch wenn sie nicht müde wurde, ständig zu wiederholen, es sei aus Liebe zu ihrem Bruder geschehen, zweifelte er an diesen Beweggründen. Er hasste sie für ihre Entscheidung.
Heute wusste Walker kaum noch, wo das menschliche Gewebe begann und der Kunststoff aufhörte. Er war mehr Maschine als Mensch, bespannt mit Haut und Haaren. Ein kläglicher Rest Menschlichkeit war übrig geblieben, kaum wert erwähnt zu werden. Ein paar Kilo fleischiger Masse zwischen Plastik, Stahl und Keramik. Er mochte zwar am Leben sein, doch welche Art von Existenz war das? Walker wusste um die Vorteile, wusste, dass er nun stärker, schneller, ausdauernder und effektiver war als jemals zuvor. Ein neuer, besserer Körper, dessen Leistungsfähigkeit weit über die eines normalen Menschen ohne Hilfsmittel hinaus ging. Das änderte jedoch nichts daran, dass er sich vollkommen zerrissen fühlte, wie sein Körper nach dem Zusammenprall. Obwohl er keine der alten Gliedmaßen mehr besaß, spürte er immer wieder den kreischenden Schmerz des Aufpralls und wie er ihn in wenigen Sekunden in Stücke riss. Gleich hochkonzentrierter Säure schoss der Schmerz durch seine verbliebenen Nervenenden und ließ ihn innerlich erzittern.
Inzwischen hatte er sich an seine semihumane Existenz gewöhnt, doch viele Annehmlichkeiten blieben ihm verwehrt wie der Alkohol, der niemals seine Blutbahn und damit auch unmöglich sein Gehirn erreichte. Er hätte ihn sich direkt in den Blutkreislauf spritzen müssen, um etwas davon zu spüren.
Walker betrachtete den Flachmann, nachdem er einen Schluck genommen hatte, und fragte sich, wieso er noch trank. Der Whiskey mochte schmecken wie früher, doch einen angenehmen Rausch bekam er dadurch nicht mehr. Er könnte genauso gut eine Limonade trinken, der Effekt wäre derselbe. Vermutlich war es die Gewohnheit oder der altbekannte Geschmack auf seiner Zunge. Gedankenverloren glitt sein Blick über den silbernen Flachmann bis hin zu den schwarzen Fingern, die ihn hielten. Der einstige Glanz der Polymerpanzerung war vergangen, das Material war matt geworden, so matt wie seine Gefühlswelt, verziert mit unzähligen Kratzern, die Kämpfe und der Alltag mit sich brachten.
Eine Weile stand er nur da und wirkte wie ausgeschaltet. In seinen Augen war jegliche mechanische Bewegung erstarrt. Seine Atmung ging prozessorgeschaltet flach und ruhig, ohne dass sich sein Brustkorb hob. Sechs Jahre war all das nun schon her, die Fragen waren dieselben geblieben. Er hatte solange nach den Antworten gesucht, dass die Fragen selbst keinen Sinn mehr ergaben.
Doch da war diese eine quälende Frage, die über allen anderen schwebte und sich wie ein Gewirr an losen Kabeln durch seinen Verstand zog, aus dem er sich nicht befreien konnte: Warum hatte er das zugelassen?
Wenn er wie seine Kollegen einfach nur weggesehen oder die Hand aufgehalten hätte, wäre er heute noch ein Mensch aus Fleisch und Blut, der zu einem Arzt gehen konnte anstatt sich wie einen Toaster reparieren lassen zu müssen. Er könnte glücklich sein mit Amelie, vielleicht sogar eine Familie haben. Zwei Kinder, wie er es sich immer gewünscht hatte, ein Mädchen und einen Jungen. Alles, was er dafür hätte tun müssen, war den Insider zu opfern. Doch er hatte lieber sein eigenes Leben und das von Amelie auf dem Altar seiner eigenen Dickköpfigkeit geopfert.
Walker blies Rauchringe in die Luft und sah zu, wie sie sich langsam zur Decke hinauf bewegten, nur um kurz davor zu verblassen. Mit den Erinnerungen kehrte auch das Drängen seines Körpers nach Glas zurück, als wären sie untrennbar miteinander verwoben. Die moderne Droge war ein unerwünschtes Produkt chemischer Experimente irgendeines Pharmakonzerns. Jemand war klug genug gewesen, die Formel zu sichern und am Schwarzmarkt zu verkaufen. Womöglich zeichnete sogar der Konzern selbst dafür verantwortlich. Wer wusste das schon in einer Zeit, wo nur Gewinnmaximierung und Zahlen etwas zählten, während die Menschlichkeit auf der Strecke blieb.
Egal wie, die Droge hatte vor Jahren ihren Siegeszug auf der gesamten Welt angetreten. Durch ihre einzigartige Wirkung koexistierte sie nicht nur mit all den anderen Rauschmitteln, sondern war zu einer Art Verstärker geworden. Walker dachte an die intensiven Gefühle, die nach seinem ersten Schuss Glas über ihn hereingebrochen waren. Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie sich seine Sinne bis an die äußerste Grenze des Erträglichen geschärft hatten. Mit Glas wurde die Welt detailreicher, die Farben leuchtender. Leiseste Töne wuchsen gemeinsam zu so komplexen Klangwelten heran, dass sie einem den Verstand rauben konnten. Und selbst Wasser schien den Geschmack göttlichen Ambrosias anzunehmen. Glas verstärkte jegliche Wirkung, egal ob es Drogen waren, Alkohol, oder Orgasmen. Es war, als ob man einen Vorhang zur Seite zog, der einem das ganze Leben über den Blick auf die wirkliche Welt verwehrt hatte. Die Droge schaffte es, die Existenz in seiner Gesamtheit für ein paar Stunden interessanter und intensiver zu zeichnen. Doch gleichzeitig machte sie sie auch um einiges gefährlicher, denn Glas machte keinen Halt vor den dunklen Seiten der Empfindungen und Gefühle. Wer hasste, hasste mit einer unvorstellbaren Inbrunst, wer Wut verspürte, wurde richtiggehend rasend. Jede Wahrnehmung wurde in seiner Wirkung potenziert, ohne dass man abdriftete. Der Verstand blieb dabei glasklar. Selbst die eigenen Gedanken erschienen einem wie ein Quell göttlicher Inspiration.
Als nach seiner Wiedererweckung der Effekt von Alkohol und Tabak an den Filtern seiner mechanischen Organe verraucht war, hatte sich Walker dem Glas zugewandt. Direkt in den Brutkreislauf injiziert, konnte es die Filter überwinden und sein Gehirn erreichen. Die Asservatenkammer leistete ihm dabei gute Dienste. Nach seiner gewaltsamen Umgestaltung und dem Verlust von Amelie verwandelte er so den Fluss der Emotionen, der sein Bewusstsein überschwemmt hatte, endgültig in einen reißenden Mahlstrom.
Hass, Zorn, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit kamen mit der Klarheit der kristallinen Form von Glas und rissen ihn in eine pechschwarze Tiefe. Mit dem Finger am Abzug wurde Walker beinahe von der grausamen Intensität seiner Empfindungen aufgezehrt. Nie zuvor in seinem Leben hatte er so einen alles verzehrenden Hass und eine dermaßen tiefe Verzweiflung in sich gespürt. Doch ein alter Wille hielt ihn am Leben, wie schon all die Jahre zuvor. Er zwang ihn von seiner Apathie aufzustehen und das zu tun, was notwendig war. Niemand konnte ihn in diesem Zustand aufhalten. Mit einer Dosis konzentrierter Vergeltung in den Adern kam er gleich einem Dämon über die Peiniger von Amelie und ertränkte sie in ihrem eigenen Blut.
Nachdem er Rache genommen hatte, brannten seine Trauer und sein Hass durch das Glas in einem Bruchteil der normalen Zeit herunter. Als die Wirkung der Droge nachgelassen hatte, war nur ein Gefühl von Taubheit zurückgeblieben, als wären alle seine Empfindungen zu Asche verbrannt worden. Das lag nun schon vier Jahre zurück, geblieben war der regelmäßige Konsum von Glas, wenn er die tief vergrabenen Emotionen heraufbeschwören wollte, gute wie schlechte. Und jedes Mal war es ein Spiel mit dem Tod, denn der Nordström war niemals weit.
Walker schnippte die heruntergebrannte Zigarette quer durch das leere Lager, als sich das Tor endlich öffnete. Rumpelnd schob es sich nach oben. Er löste sich von der Wand und postierte sich in der Mitte des Raums, um seine Gäste zu empfangen. Langsam glitt seine Hand zum Nordström, der wie eine Erweiterung seines Körpers unter dem Mantel hing.

Lower Chicago – USA

Nyx saß in ihrer Wohnung und starrte auf ihre Bildschirme. Endlose Codezeilen spiegelten sich in ihren Pupillen wider. Vor wenigen Minuten hatte sie alle Dateien für das Hosting der Zone erhalten. Jetzt betrachtete sie den Quelltext der Zone und kam nicht umhin, die Person dahinter zu respektieren. Wenngleich die Zone selbst kaum der Rede wert war, zeigte der Code eine Komplexität, die Nyx nicht vollkommen durchschauen konnte. Obwohl sie es nur ungern zugab, musste sie sich doch eingestehen, im Gegensatz zu diesem Phobos eine Amateurin zu sein, zumindest was bestimmte Programmierkünste betraf.
Sie lehnte sich in dem knarzenden alten Stuhl zurück und grübelte über ihre Lage nach. Sollte sie doch noch einen Rückzieher machen? Trotz ihres Maschinenbewusstseins fürchtete sie, die Situation nicht kontrollieren zu können. Eine Weile saß sie da und starrte den komplexen Code an. Beinahe schien es, als bestünde er nur aus einem in sich verschlungenen Chaos. Irgendwann gab sie sich einen Ruck und sprang auf. Entschlossen stapfte sie zu ihrem Bett, verband sich mit der Box und atmete ein letztes Mal durch. Dann begann sie den Dive.
Das unbeschreibliche Gefühl absoluter Körperlosigkeit hielt nur einen Augenblick lang an. Als Nyx die Augen langsam öffnete, befand sie sich nicht länger in ihrem Schlafzimmer. Aufmerksam sah sie sich um, doch zu ihrer Überraschung gab es kaum etwas zu sehen. Obwohl sie unter ihren Füßen festen Widerstand spürte, war da kein Boden. Es gab weder Decke noch Wände, es existierte kein Himmel und auch sonst keinerlei offensichtliche, physische Begrenzung. Ein paar Schritte voraus standen zwei große, schwarze Lederstühle, die einen extremen Kontrast zu dem allgegenwärtigen Weiß darstellten. Sie warfen nicht einmal Schatten.
Nyx brauchte eine Weile, um sich an die ungewöhnlich sterile Umgebung zu gewöhnen. Der Zone schien es an allem zu fehlen, selbst am Geruch. Alleine das Licht war allgegenwärtig, blendete aber nicht. Nyx sah nach unten und es war ein seltsames Gefühl, den vertrauten Schatten nicht an ihrer Seite zu wissen. Als sie die erste Überraschung über die minimalistische Zone überwunden hatte, steuerte sie auf die beiden Stühle zu. Sie berührte das schwarze Material und strich über die Rückenlehne. Es fühlte sich wie echtes Leder an und roch auch so. Ansonsten war die Zone eine von Reizen befreite Umgebung. Die Stille in diesem ewigen Weiß war erdrückend. Nyx hörte nur ihren eigenen Atem mit übertriebener Deutlichkeit. Sie entschloss sich, die Ränder der Zone abzusuchen, und marschierte los. Selbst die Geräusche ihrer Schritte wurden von dem seltsamen Boden geschluckt. Immer weiter trugen sie ihre Beine, ohne jedoch an einen Rand zu stoßen.
»Hallo!«, schrie sie. Ihre Stimme wurde sofort von der Stille verschluckt. Kein Echo.
Achselzuckend ging sie weiter. Nach einer Weile wandte sie sich um und sah die beiden Stühle in der Ferne zusammenschrumpfen. Sie runzelte die Stirn und beschleunigte ihre Schritte. Jeden Moment erwartete sie, auf eine unsichtbare Mauer zu stoßen, doch nichts dergleichen geschah. Sie lief immer weiter, ohne die Grenzen des digitalen Konstrukts zu erreichen. Mangels Anhaltspunkten verlor Nyx schnell die Orientierung. Sie konnte nicht mehr sagen, ob sie geradeaus lief oder im Kreis herum. Allmählich wurde sie nervös.
Schon glaubte sie, sich in diesem endlosen Weiß verirrt zu haben, da machte sie in der Ferne etwas aus. Froh einen Fixpunkt in der farblosen Uniformität entdeckt zu haben, rannte sie los. Zuerst nur ein einzelner schwarzer Punkt in der Ferne wurden bald zwei daraus. Immer größer wurden die Punkte, bis sie Konturen annahmen. Und dann knisterte die Erkenntnis wie kleine Stromschläge hinter ihrer Stirn.
Außer Atem machte sie vor den beiden Lederstühlen halt. Sie standen inmitten der farblosen Zone wie ein Naturgesetz. Nyx drehte sich um ihre eigene Achse und hielt nach weiteren Punkten Ausschau, doch da war nichts. Im ersten Moment wurde sie von Panik erfasst und lief in eine andere Richtung los. So schnell ihre Beine sie tragen konnten, rannte sie durch die Leere der Zone. Immer wieder warf sie einen Blick über die Schulter, wo die beiden Stühle langsam im Weiß verschwanden. Die Angst trieb ihre Muskeln an wie Blitzentladungen. War die Zone eine ausgeklügelte Falle? War sie hier gefangen?
Der Geruch ihres eigenen Körpers stieg ihr wie giftiges Gas in die Nase, obwohl sie nicht einmal wusste, ob die Zone mit Luft gefüllt war. Wenn sie lief, gab es weder Luftwiderstand noch Anzeichen, dass emulierter Sauerstoff ihre digitalen Lungen füllte. Und doch glaubte sie zu atmen.
Erneut warf Nyx einen Blick über die Schulter, wo die Stühle nicht mehr zu erkennen waren. Genau in dem Moment tauchten vor ihr abermals Punkte auf. Nyx war außer Atem, die Kräfte ihres Avatars verließen sie allmählich, trotzdem rannte sie weiter. Erst als sie wieder das schwarze Leder unter ihren Fingern spürte, verschnaufte sie. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Das konnte doch nicht möglich sein. War die Zone riesig und es standen überall dieselben Stühle, oder war es eine Art Schleife im Programm. So etwas hatte sie in einer Zone noch nie erlebt. Nyx zog ihr Shirt aus und legte es auf einen der Stühle. Dann wählte sie eine beliebige Richtung und rannte erneut los.
Als sie die zwei Stühle erneut erreicht hatte, fand sie auch das Shirt wieder. Sie befand sich also doch in einer Art Schleife. Die Angst machte sogleich der Faszination Platz. Eine Zonemap glich üblicherweise der physikalischen Welt. Es waren programmierte Abbilder von Schauplätzen. Irgendwann gab es unsichtbare Mauern und dahinter endete die Zone dann. Der Rest war nicht existent. Man stand vor einem raumlosen Nichts. Es existierten zwar Portale und diverse auslösbare Funktionen, die Menschen sofort von einem Punkt der Zone an einen anderen beförderten, aber das hier war etwas vollkommen Anderes. Egal wohin sich Nyx bewegte, sie gelangte immer wieder an diesen einen Punkt.
Nyx wandte sich um. Hinter einem der schwarzen Stühle musste sich der Ausgang befinden. Sie bewegte sich darauf zu und spürte, wie die Box den Übergang in die Realität einleitete. Dann wachte sie in ihrem Bett auf. Sie lauschte dem gewohnten Lärm der Stadt und der Nachbarwohnungen, der durch das alte Mauerwerk hereinsickerte. Es war also keine Falle. Der Gedanke daran, was sie von diesem geheimnisvollen Phobos lernen konnte, überlagerte die Angst vor ihm. Erst Ree, jetzt diese Zone. Der mysteriöse Meister von Ree musste ein Genie sein.
Nyx entschied sich für das Treffen. Sie teilte ihr Bewusstsein in mehrere Fragmente und tauchte dann erneut in den digitalen Code der Zone ein. Jedes ihrer Bewusstseinsfragmente war weiterhin ein Teil von ihr, über das sie die volle Kontrolle besaß. Sie fühlte sich nicht mehr wie ein einzelnes Wesen, sondern wie mehrere unterschiedliche Entitäten. Es war Zeit, Ree die Frameadresse der Zone mitzuteilen. Phobos konnte kommen.

City One – Atlantik

In dem Spalt, der sich am Tor aufgetan hatte, konnte Walker vier Beine erkennen. Ein Paar gehörte eindeutig zu Lieutenant Sethi. Zentimeterweise öffnete sich das Tor, bis die Soldatin zusammen mit Rush als Ganzes zu sehen war. Walker nahm die Hand vom Griff seiner Waffe und entspannte sich. Als das Tor schwieg, trieb Sethi den jungen Techspecialist mit einem Hieb in den Rücken in den Lagerraum hinein.
»Weiter!«, fauchte sie ungeduldig.
Rush warf ihr einen verängstigten Blick über die Schulter zu, setzte sich dann aber in Bewegung. Als er Walker erkannte, erstarrte er. Sethi trug eine Neun-Millimeter von Usoco, die sie Rush in den Rücken presste. Sie schloss das Tor hinter sich.
»Detective Walker?«, fragte der Techspezialist überrascht und wurde von Sethi schrittweise in die unmittelbare Nähe von Walker geführt.
»Wie schön, Sie erinnern sich noch an mich.«, stellte er fest.
Sein Sozialmodul nahm sofort wieder die Arbeit auf und fokussierte sich auf den jungen Spezialisten.
»Ist das nicht ein wenig übertrieben für ein geheimes Treffen?«, fragte Rush und versuchte sich an einem lässigen Gesichtsausdruck. Doch es gelang ihm nicht. Walker erkannte die angespannten Züge in seinem Gesicht.
»Wer hat etwas von einem Treffen gesagt?«, fragte Walker und wandte sich dann an Sethi. »Hat er Probleme gemacht?«
»Nicht wirklich.«, gab sie kopfschüttelnd zurück. »Nachdem er die Waffe gesehen hatte, wurde er schnell handzahm.«
»Sie haben den Störsender eingesetzt?«, wollte Walker wissen.
»Natürlich.«, sagte sie empört, als wäre die Frage eine Beleidigung. »Niemand ist uns gefolgt.«
»Hoffentlich.«, entgegnete Walker und richtete den Blick seiner kalten Maschinenaugen auf Rush.
»Was soll das hier werden?«, fragte der, als er wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. »Mann, wenn Sie nur mit mir reden wollen, hätten Sie auch einfach anrufen können.«
Walker lächelte ein undurchsichtiges Lächeln. Dann, mit der Geschwindigkeit einer Glasfaserverbindung, packte er den jungen Mann einhändig und hob ihn vom Boden auf. Eine unwichtige Einblendung am Rande seines Blickfeldes zeigte das Gewicht mit einundsiebzig Kilogramm an, was seinen künstlichen Muskeln kaum etwas abverlangte.
»Um eines gleich klarzustellen.«, sagte er und sah Rush warnend an. »Das hier ist kein Spiel. Sie sollten also gut darauf achten, was Sie in nächster Zeit von sich geben.«
Rush versuchte sich aus dem Griff zu lösen und strampelte mit den Füßen in der Luft.
»Wir wissen, dass Sie ein Maulwurf sind und mit den Leuten zusammenarbeiten, die für das Attentat auf den Rat verantwortlich sind. Heute werden Sie ein Geständnis ablegen, Specialist Holt, falls Sie überhaupt so heißen.«
Dann warf er den jungen Mann in den Metallstuhl, der mit einem grellen Kreischen ein Stück weiter rutschte und dabei beinahe umgekippt wäre, wenn Rush sein Gleichgewicht nicht sofort verlagert hätte. Ängstlich blickte er zu Walker auf, der bereits wieder herangekommen war und sich vor ihm wie eine kampfbereite Maschine aufbaute. Sethi trat schweigend an seine Seite und lehnte sich locker an die Wand, um alles genau beobachten zu können. Ein Teil ihrer Maske war seit den letzten Vorfällen abgefallen. Jetzt wirkte sie mehr wie ein Mensch, der von Wut und alter Verbitterung zerfressen war als wie eine gefühlskalte Amazone.
Nachdem Rush das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, blitzte er Walker überrascht an.
»Was ist denn in Sie gefahren, Detective?«, fragte er. Sein Blick pendelte zwischen Angst und Zorn hin und her. »Ich bin doch kein Maulwurf.«
Walker stand über ihm mit der absoluten Gewissheit der Überlegenheit und beobachtete Rush, während sein Sozialmodul jede noch so kleine Geste und jede noch so winzige Veränderung im Gesicht analysierte.
»Es hat keinen Zweck zu leugnen.«, sagte er mit einer Stimme, die so kalt war wie das Metall in seinen Implantaten.
Rush schüttelte den Kopf und starrte ihn ungläubig an, als könnte er nicht fassen, was er da von sich gab.
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie da eigentlich reden.«
»Na gut, dann will ich es Ihnen erklären.«, sagte Walker kontrolliert. »Sie haben dem Major mitgeteilt, dass er Lieutenant Sethi nicht trauen soll, da sie angeblich Informationen an die Medien weitergegeben hat. Aus diesem Grund ist der Major alleine in eine Falle gerannt, die ihn auf direktem Weg in eine Zelle des Ratsheeres geführt hat, eine Falle, die Sie ihm gestellt haben. Ihnen verdankt er es, dass die ganze Welt glaubt, er wäre ein außer Kontrolle geratener Schlächter.«
»Welche Falle?«, fragte Rush mit gerunzelter Stirn und schüttelte dabei heftig den Kopf. »Ich habe wirklich keine Ahnung, was Ihnen der Major erzählt hat, aber ich habe Sethi niemals irgendeiner Sache beschuldigt. Wie hätte ich das auch herausfinden sollen?«
»Sie waren der Einzige, der stets zu allen Informationen Zugang hatte.«, sagte Walker ohne den Angeklagten aus den Augen zu lassen. »Sie waren der Dreh- und Angelpunkt für alle. Sie haben die Spur entdeckt, die den Major zu dieser Fabrik geführt hat. Und Sie waren auch der Einzige, der die Daten aus dem Implantat des Phantoms zu Gesicht bekommen hat. Passenderweise wurden sie alle nach Ihrer Überprüfung gelöscht.«
»Das war doch mein Job.«, verteidigte sich Rush. »Ich habe immer nur getan, was man mir gesagt hat.«
Er sah Sethi hilfesuchend an.
»Lieutenant, bitte. Wir waren doch ein Team.«
Der Schlag traf Rush, ehe dieser ein weiteres Wort vorbringen konnte. Obwohl der Hieb schwach dosiert ausfiel, stürzte der junge Mann beinahe vom Stuhl.
»Sie wird Ihnen nicht helfen!«, sagte Walker etwas lauter und zwang dem Techspecialist seinen durchbohrenden Blick auf. »Denn Sie sind dafür verantwortlich, dass sie kurz vor einer unehrenhaften Entlassung steht und diese Frau nimmt ihre Karriere äußerst ernst. Ich bin hier der gute Bulle. Wenn ich nicht wäre, würde Lieutenant Sethi Sie auf der Stelle in Stücke reißen.«
Der Blick, den der junge Techspecialist ihm zuwarf, wirkte plötzlich um einiges weniger trotzig.
»Sie werden mir jetzt ein paar Fragen beantworten.«, sagte Walker mit einer Bestimmtheit, als wäre es ein neues Grundgesetz der Physik.
»Sie sind verrückt geworden.«, murmelte Rush vor sich hin.
Walker ignorierte den Kommentar, wie er es seit mehr als zwei Jahrzehnten als Polizist gewohnt war. Das Sozialmodul hingegen konnte die Frequenz der Stimme analysieren und eindeutig Nervosität herausfiltern. Vielleicht war er doch nicht so taff, wie Walker zu Beginn geglaubt hatte. Rush wich seinem Blick aus und starrte kopfschüttelnd auf den Boden.
»Ich habe gar nichts gemacht, Mann!«, wehrte er sich mit neu gewonnenem Mut. »Nur meinen Job. Der Major bestand darauf, dieser Spur nachzugehen, obwohl ich ihn überreden wollte, auf Unterstützung zu warten, doch er meinte nur, er schaffe das alleine.«
Rush nickte herablassend in die Richtung von Walker.
»Sie waren ja gerade nicht erreichbar und der Lieutenant hatte ihre eigenen Aufgaben zu erfüllen.«
»Die Nachricht des Majors erzählt da eine andere Geschichte.«, konterte Walker. »Laut ihm waren Sie es, der ihn vor Lieutenant Sethi und ihrem angeblichen Verrat gewarnt hat.«
»Sie glauben irgendeiner Nachricht mehr als mir?«, fragte Rush. »Wann haben Sie eigentlich das letzte Mal mit ihm gesprochen? Vielleicht haben Sie da einfach nur was falsch verstanden.«
Es stimmte, die Nachricht war das letzte, das Walker von Major Devon Reeves gehört hatte, bevor sie ihn zu den Verhören gebracht hatten. Die Nachricht war jedoch eindeutig gewesen und hatte keine Fehlinterpretationen zugelassen.
»Oder jemand hat meine Stimme imitiert.«, fügte Rush hinzu. »Das ist mit den technischen Möglichkeiten heutzutage so einfach wie ein VEX aus dem Frame zu laden.«
»Vielleicht war es so.«, sagte Walker und beugte sich zu Rush herab. »Aber Sie haben Recht, ich traue Ihnen weniger als dieser Nachricht.«
Rush schluckte, als er in die Cyberaugen mit ihren drehenden Mechanismen blickte.
»Da sind einige Punkte in Ihrer Akte, die mir äußerst starke Kopfschmerzen bereiten, vielleicht können Sie da ja etwas Licht ins Dunkel bringen.«, fuhr Walker fort, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte.
»Dann sollten Sie eventuell besser ein paar Aspirin schlucken.«
Der nächste Schlag kam schnell und unerwartet. Rush schrie kurz auf und wischte sich anschließend Blutstropfen aus den Mundwinkeln.
»Wichser!«, fauchte er. »Stellen Sie Ihre Fragen, wenn es Ihnen dann besser geht.«
Walker musste zugeben, dass der junge Mann eine gelungene Vorstellung gab, ließ sich davon aber nicht ablenken.
»Ich habe ein wenig recherchiert und muss gestehen, Ihre Vergangenheit ist gut ausgearbeitet aber gleichzeitig so dünn wie das Eis, auf dem Sie gerade stehen.«
»Ficken Sie sich Detective.«, brummte Rush und schloss instinktiv die Augen, da er einen neuerlichen Schlag erwartete. Doch Walker ließ ihn zappeln.
»Man stieß erst vor wenigen Wochen auf Sie, als Sie versucht haben, den Zentralrechner des Ratsheeres zu knacken. Doch statt Sie einzusperren gab General Rita Idris Ihnen aufgrund Ihrer herausragenden Fähigkeiten eine Chance. Sie hatten die Wahl: Cyberwar-Akademie oder Gefängnis. Die Entscheidung dürfte Ihnen nicht schwer gefallen sein.«
»Darauf können Sie einen lassen.«, sagte Rush. »Es war ein geiles Angebot.«
»Hm.«, brummte Walker. »Und aufgewachsen sind Sie auf den Straßen von Phoenix, nachdem Sie aus dem Waisenhaus abgehauen sind. Keine richtige Ausbildung, keine nachvollziehbare Vergangenheit, nur jede Menge Gerüchte. Wie praktisch.«
Walker machte ein anerkennendes Gesicht.
»Sie haben sich natürlich alles selbst beigebracht. Wirklich außergewöhnlich.«
Der beißende Sarkasmus in seiner Stimme entflammte die Augen von Rush.
»Und wie ich das habe.«, erwiderte er trotzig und fasste sich an die blutende Lippe. »Es kann nicht jeder gut behütet in einer Villa aufwachsen. Ist doch wohl nicht meine Schuld. Ich musste mich durchkämpfen, es auf die harte Tour lernen. Aber nur so kommt man zu etwas.«
Rush blitzte Walker wütend an.
»Nur weil ich auf der Straße groß geworden bin und mein Geld mit illegalen Hacks verdient habe, bin ich jetzt der Bösewicht hier oder was?«
Ein humorloses Lächeln umspielte seine Lippen, als hätte er einen schlechten Witz auf seine Kosten gehört.
»Ach so, jetzt verstehe ich, einmal Verbrecher immer Verbrecher. Wenn jemand der Maulwurf ist, dann kann es ja wohl nur der Hacker von der Straße sein.«
Walker bekam keine eindeutigen Werte von seinem Sozialmodul. Er musste Rush mit dem richtigen Maß an Druck weiter bearbeiten, dann würde er hoffentlich die Wahrheit aus ihm herausbekommen.
»Wie viel hat man Ihnen geboten?«, fragte er.
»Scheiße, gar nichts.«, antwortete Rush. »Ich muss mich das erste Mal in meinem Leben nicht vor irgendwelchen Straßengangstern fürchten, wieso sollte ich das wegwerfen? Die Kohle vom Heer ist alles andere als schlecht und die Hardware noch um einiges besser.«
»Haben Sie die Aufzeichnungen vom Implantat des Majors manipuliert, damit alle Welt glaubt, er wäre ein schießwütiger Killer?«
»Nein verdammt!«
Immer wieder gab ihm das Sozialmodul widersprüchliche Meldungen aus, die es dem Programm nicht erlaubten, Rush richtig einzuschätzen. Walker bekam erste Zweifel.
»Ich stehe auf Ihrer Seite, Mann!«, stieß Rush hervor und wandte sich an Sethi. »Lieutenant, wir …«
Der Schlag hallte durch das Lager, gefolgt vom Geräusch von Metall, das auf Beton krachte. Dann ertönte ein schmerzverzerrtes Stöhnen.
»Scheiße, ich hab doch gar nichts getan.«, wimmerte Rush. »Warum wollen Sie mir nicht glauben?«
Walker war sofort über ihm und zerrte ihn mit einem brutalen Griff wieder hoch. Er packte ihn am Kragen seines Shirts und zog ihn nahe an sich heran, sodass er den Atem des jungen Mannes spüren konnte.
»Jetzt hören Sie mir genau zu.«, sagte Walker und gab sich Mühe, überzeugter zu klingen als er es inzwischen war. »Sie sind nur eine kleine Ratte, die für Geld alles tun würde. Einmal Ratte, immer Ratte. Ab sofort werde ich Ihnen jedes Mal einen Finger brechen, wenn Sie mich belügen, verstanden?«
In den Augen von Rush breitete sich blankes Entsetzen aus und daran war nichts gespielt. Walker stieß ihn auf den Stuhl zurück.
»Wer hat Sie beauftragt?«
Rush zögerte und suchte nach einer Antwort, die seine Finger verschonen würde, doch scheinbar fiel ihm keine ein.
»Niemand, verflucht nochmal.«
Walker streckte die Hände aus, um seine Drohung wahr zu machen.
»Nein, bitte.«, flehte Rush und wehrte sich, doch gegen die kybernetischen Kräfte von Walker hatte er nicht die geringste Chance. Ein kaum wahrnehmbares Knacken ging dem langgezogenen Schmerzensschrei von Rush voran.
»Wichser!«, fluchte er lautstark und hielt sich den gebrochenen Finger. »Ich bin unschuldig.«
Walker warf Sethi einen beiläufigen Blick zu, doch sie hätte genauso gut ein Teil der Wand sein können, so regungslos verfolgte sie das Schauspiel. »Noch einmal.«, sagte Walker langsam. »Wer hat Sie beauftragt?«
Rush schüttelte den Kopf, in seinen Augen brannten Zorn und Schmerz lichterloh.
»Niemand!«
Walker brach ihm den nächsten Finger.
Er hoffte, diesmal den richtigen Verdächtigen erwischt zu haben.

Kapitel 4 (Gesamter Text)

4 – Phobos

Zone: Phobos Zone

Gleich nachdem die primäre Entität die von Nyx gehostete Zone kontrolliert hatte, war sie wieder verschwunden. Einem Treffen mit dem geheimnisvollen Meister der hochentwickelten KI stand nun nichts mehr im Wege. Mit den Fragmenten ihres Bewusstseins überprüfte Nyx ein letztes Mal alle Sicherheitsmaßnahmen, die sie wie Barrikaden und Labyrinthe vor ihre Box geschaltet hatte. Sie vergewisserte sich auch, dass keine Reste des Quellcodes von Ree in ihren Systemen zurückgeblieben waren. Nirgendwo war eine Spur ihres wandelbaren Codes zu entdecken. Nyx hatte es geschafft, ein kurzes Abbild von Ree zu kreieren, als Beweis dafür, dass sie nicht verrückt war. Dennoch war es kaum mehr als ein flüchtiger Blick auf ein Stück unglaublicher Software, wie eine lausige Videoaufnahme eines Geistes.
Als Nyx zufrieden war, postierte sie sich hinter dem zweiten Stuhl, der sich dem Zoneeingang gegenüber befand. So würde sie ihren Gast beim Eintritt in die Zone beobachten können. Nyx zweifelte nicht daran, dass selbst Phobos seine Probleme haben würde, sie jetzt noch zu hacken.
Schon eine Minute später spürte sie, wie sich jemand mit dem Server verband, auf dem sie die Zone betrieb. Es war weniger ein Gefühl als eine Art unterbewusstes Wissen, dass ihr entseeltes Maschinenbewusstsein ihrem Verstand übermittelte. Nur eine Sekunde darauf erschien der Avatar von Phobos hinter dem schwarzen Lederstuhl. Die Gestalt schnitt sich aus dem weißen Hintergrund und verharrte für einen kurzen Augenblick an der Position. Der Herzschlag von Nyx beschleunigte sich. Alle ihre Sinne liefen im Gefahrenmodus. Widersprüchliche Gefühle kamen in ihr hoch. Angst und Misstrauen verbanden sich mit Hoffnung und Neugierde. Gespannt wartete sie darauf, dass sich der Avatar mit Leben füllte.
Phobos brauchte eine weitere Sekunde, bis er gänzlich in der Zone angekommen war und warf ihr zur Begrüßung einen analytischen Blick zu. Nyx erkannte einen Qualitätsavatar sofort und seiner gehörte definitiv zu dieser Kategorie. Kein generisches Allerweltsgesicht. Markante Züge prägten das ernste und gereifte Gesicht. Der große, schlanke Körper steckte in einem hellgrauen Anzug mit weißem Hemd und dunkler Krawatte. Sie schätzte Phobos auf fünfzig, aber das hatte in der Welt der Zones nur wenig Bedeutung. Sein Gesicht wurde von ausdrucksstarken und geradezu unnatürlich blauen Augen beherrscht.
»Hallo Samantha.«, sagte er mit ruhiger Stimme, die jedoch von der umgebenden Stille verstärkt zu werden schien. Das Lächeln auf seinen schmalen Lippen war freundlich aber distanziert.
Nyx zuckte innerlich zusammen und verlor für ein paar Sekunden ihre Sprache. Der Schrecken jagte wie ein Stromschlag durch ihre Nervenenden. Ihren wahren Namen kannten und verwendeten nur ihre Mütter, niemand sonst. Für alle anderen war sie Nyx oder eine der unzähligen falschen Identitäten, die sie im Frame und den Zones einsetzte. Sie hatte sich lange auf dieses Treffen vorbereitet, war alle möglichen Szenarien im Kopf durchgegangen, doch schon in dieser ersten Sekunde ihres Gesprächs fühlte sie sich entwaffnet. Indem er ihren Geburtsnamen aussprach, brachte er Nyx aus dem Konzept. Seine intensiv blauen Augen schienen sie mit sanftem, aber stetigen Druck langsam zu durchlöchern.
Nyx fühlte sich durchschaut. Sie wollte seinem Blick ausweichen, um sich neu zu sammeln, doch es gab nur ihn und das ewige Weiß der Zone. Kein Fixpunkt, an dem sie sich orientieren konnte. Also hielt sie ihm stand und suchte rasch nach einer passenden Entgegnung.
»Samantha nennen mich eigentlich nur meine Freunde.«, log sie und versuchte dabei selbstsicher zu klingen. Bevor sie nicht wusste, wen sie vor sich hatte, wollte sie ihre innere Anspannung nicht zeigen. »Und Sie sind dann wohl Phobos.«
»So ist es.«, antwortete der mysteriöse Meister von Ree.
»Eine interessante Zone haben Sie mir da geschickt.«, sagte Nyx beiläufig und strich gedankenverloren über das schwarze Leder ihres Stuhls, froh seinem Blick für ein paar Sekunden aus dem Weg gehen zu können. Dabei verbarg sie sowohl den ehrfurchtsvollen Respekt als auch die höllische Angst, die sie vor seinen Fähigkeiten hatte, hinter einem gelassenen Gesichtsausdruck. »Ich mag den minimalistischen Look.«
»Die Zone ist auf das Wesentlichste reduziert.«, erklärte Phobos. »Keine Ablenkungen. Ich hoffe, dieser Umstand irritiert Sie nicht.«
Seine Worte, so freundlich sie auch formuliert sein mochten, waren eine deutliche Herausforderung.
Nyx zauberte das trotzigste Lächeln, zu dem sie imstande war, auf ihre Lippen und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie war jetzt froh, sich für den Avatar entschieden zu haben, der eine beinah exakte Kopie ihres realen Körpers war. Ree wusste, wie sie aussah, weshalb bestimmt auch Phobos diese Information besaß. Außerdem sollte es ihm zeigen, dass sie keine Angst vor ihm hatte.
»Ich fühle mich ganz wohl hier.«, bemerkte sie leichthin, ließ sich mit einer geschmeidigen Bewegung in den Stuhl fallen und warf dann ein Bein über die Armlehne. »Vor allem diese intensiven Farben.«
Phobos nickte ihr zu. Ein schwaches Lächeln haftete an seinen Lippen, als wäre es an genau diese Stelle programmiert worden.
Das geteilte Maschinenbewusstsein von Nyx patrouillierte unterdessen im körperlosen Raum des Frames. Wie ein Geist der Maschine war sie so Teil des Codes, der durch die Leitungen floss. Nirgendwo war die Präsenz von Ree zu spüren.
Phobos nahm in dem Stuhl gegenüber Platz und bedachte sie anschließend mit einem langen Blick seiner hellblauen Augen. Nyx fragte sich, ob der Avatar das reale Abbild des Mannes hinter der mysteriösen Gestalt war, doch sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Jemand wie er würde niemals die eigene Identität preisgeben. Es konnte genau so gut möglich sein, dass eine Frau hinter der digitalen Illusion steckte.
»Was wissen Sie über Hort 33?«, fragte Nyx, kaum dass er es sich auf seinem Platz bequem gemacht hatte. Sie hoffte, ihn damit ein wenig aus der Fassung bringen zu können. Doch er schlug gelassen die Beine übereinander und legte die Hände auf die Oberschenkel.
Er löschte das Lächeln aus seinem Gesicht.
»Hort 33.«, begann er. »Eine geheime Forschungseinrichtung, in die man junge Waisenkinder ohne ID brachte, um an ihnen ein neuartiges Neuroimplantat zu testen, das unter dem Projektnamen Medusa geführt wurde. Sie waren eines von diesen Kindern.«
Nyx war überrascht, ließ es sich aber nicht anmerken. Es gab nur wenige Menschen, die von dem Implantat wussten. Ihre Verfolger, ihre Mütter und sie selbst. Es bewies zumindest, dass Phobos wirklich über Hort 33 Bescheid wusste, nicht aber auf welcher Seite er stand.
»Was wissen Sie noch?«, fragte sie, als ginge es nur um eine Nebensächlichkeit.
»Erwarten Sie ernsthaft, dass ich Ihnen mein gesamtes Wissen einfach so zur Verfügung stelle?«
Nyx zuckte mit den Achseln.
»Hey, Sie wollten mich doch hier haben.«, sagte sie und blinzelte Phobos herausfordernd an. »Warum also dieses Treffen? Was erhoffen Sie sich davon?«
»Ich benötige Ihre Hilfe.«
Nyx verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. Einerseits überraschte es sie, andererseits auch wieder nicht. Niemand verschenkte etwas, schon gar keine Informationen von solchem Seltenheitswert.
»Sie brauchen meine Hilfe?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Also ein Handel. Informationen gegen meine Hilfe.«
Nyx konnte nicht erkennen, was hinter dem markanten Gesicht des Avatars vor sich ging. Phobos ließ sich nicht eine Sekunde in die Karten sehen. So wie er regungslos und wortkarg in dem Stuhl saß, machte er einen geheimnisvollen Eindruck. Er war wie der Code von Ree, nicht fassbar und schwer zu durchschauen.
»So in etwa.«, sagte er. »Ich schlage Ihnen eine längerfristige Zusammenarbeit vor.«
»Ich arbeite prinzipiell alleine.«, antwortete Nyx sofort.
»Dann hoffe ich, Sie umstimmen zu können.«
»Spucken Sie es schon aus, was wollen Sie von mir? Wozu braucht jemand mit Ihren Fähigkeiten eine unbedeutende Hackerin wie mich?«
Phobos blinzelte Nyx amüsiert an.
»Nur keine falsche Bescheidenheit.«, sagte er und wurde übergangslos ernst. »Wir wissen doch beide, dass Sie viel mehr als eine einfache Hackerin sind. Das beweist schon das fortschrittliche Neuroimplantat in Ihrem Kopf.«
»Na gut.«, antwortete Nyx genauso trocken. »Lassen wir die Spielchen. Ich habe mir den Code ihrer kleinen KI-Freundin angesehen: ist ein beeindruckendes Stück Software. Sieht nicht so aus, als würden Sie meine Hilfe brauchen. Ree meinte, Sie hätten den gesamten Frame nach mir abgesucht. Wozu also dieser ganze Aufwand?«
Phobos warf einen langen Blick auf die Armbanduhr, als hätte er noch ein anderes Meeting, und sah erst danach wieder auf.
»Geduld ist nicht gerade eine Ihrer Stärken, Samantha.«, sagte er und die neuerliche Erwähnung ihres Geburtsnamens war wie ein Stachel, den er tief in ihr Selbstbewusstsein bohrte.
»Für Sie bin ich immer noch Nyx.«, antwortete sie mit einem Maximum an Gelassenheit. »Und nein, ich fürchte, ich bin wirklich nicht besonders geduldig, vor allem, nachdem ich seit zwei Wochen ständig von einer mysteriösen KI und ihrem noch mysteriöseren Meister gestalkt werde. Verzeihen Sie also, wenn ich möglichst schnell zum geschäftlichen Teil übergehen möchte.«
»Sie sind klug und wortgewandt, das ist gut.«, sagte er mit einem distanzierten Lächeln, an dem Nyx nicht erkennen konnte, ob das Kompliment ernst gemeint war oder nicht. Er gehörte jener Sorte Mann an, in deren Gegenwart man sich sofort unterlegen fühlte. »Ich habe nicht gelogen, falls Sie das glauben. Ich benötige wirklich Ihre Hilfe, denn ich bin durch meine Situation lokal gebunden. Es gibt geschlossene Systeme, die ich aus diesem Grund alleine nicht erreichen kann.«
Nyx dachte an seine Worte. Er war lokal gebunden. Was das genau bedeuten mochte, konnte sie nicht sagen, aber das war definitiv eine interessante Information.
»Sie verstecken sich vor jemandem.«, sagte sie. »Haben Sie etwa Angst?«
»Ich habe keine Angst.«, entgegnete Phobos, ohne sich von ihren Worten aus der Ruhe bringen zu lassen. »Für die Welt existiere ich schon lange nicht mehr. Doch der Welt sind zu viele Augen und Ohren gewachsen. Es bedeutet schlicht und einfach, dass meine Fähigkeiten in bestimmten Situationen eingeschränkt sind. Ich mag Ihnen in vielerlei Hinsicht überlegen sein, aber längst nicht in allen. Ich weiß, was es mit dem Implantat in Ihrem Kopf auf sich hat und wozu es Sie befähigt, Samantha.«
»Bevor ich nicht mehr weiß, vor allem über Hort 33, wird es keine Zusammenarbeit geben.«, antwortete Nyx und versuchte so hart wie möglich zu klingen.
Auf eine Antwort musste sie nicht lange warten.
»Ich weiß, wer die Hauptverantwortlichen hinter Hort 33 sind.«, sagte Phobos und war sich der Wirkung seiner Worte genau bewusst.
Für diese Information hätte Nyx gemordet. Durch die allgegenwärtige Stille beherrschte seine Stimme nicht nur die gesamte Zone, sondern auch ihre Gedanken.
»Wer?«, fragte sie und biss sich sogleich auf die Lippen.
»Die Leute dahinter nennen sich Terranis.«
Nyx erinnerte sich daran. Ree hatte den Namen bereits einmal erwähnt. Nyx hatte auch Recherchen angestellt, aber nichts zu diesem Namen gefunden.
»Ich habe nachgeforscht.«, sagte sie. »Nirgendwo lässt sich etwas über eine Gruppe mit diesem Namen finden.«
»Das haben Geheimorganisationen so an sich.«, sagte Phobos und beugte sich ein wenig vor. Instinktiv rutschte Nyx ein Stück weiter zurück. »Ich kann Ihnen versichern, sie existieren. Diese Leute wandeln am Rande der allgemeinen Wahrnehmung. Sie sind da, lenken die Geschicke von ganzen Staaten, doch niemand sieht sie. Ihre Methoden sind Manipulation, Tarnung, Verschleierung und Vergessen.«
Phobos machte eine Pause, in der sein Blick noch eindringlicher wurde.
»Ist Ihnen jemals der Gedanke gekommen, dass das Fehlen jeglicher Information bereits eine Art von Information darstellt?«
Nyx verarbeitete die Worte hinter ihrer Stirn. Der Frame war ein schier endloses, digitales Gebilde aus Informationen, falschen wie wahren. Es war eine eigene Welt, in der jeder User freiwillig oder unfreiwillig Spuren hinterließ. Jede Information fand irgendwann ihren Weg in dieses digitale Paralleluniversum. Zu allem und jedem konnte man etwas finden, egal ob fundierte Fakten oder geistlose Meinungen. Doch die Suche war vollkommen ergebnislos verlaufen. Nicht einmal Gerüchte oder lächerliche Verschwörungstheorien waren ihr untergekommen. Es war, als würde der Frame auf die Frage nach Terranis mit ängstlichem Schweigen reagieren.
Während Nyx mit den Daten in ihrem Gehirn jonglierte, beobachtete Phobos sie interessiert. Geduldig wartete er auf eine Reaktion.
»Was wollen diese Leute?«, fragte Nyx.
»Ich nehme an, es geht um Macht, denn das tut es doch immer auf die eine oder andere Art.«, antwortete Phobos. »Egal, ob Sie in einer Beziehung nach moralischer Überlegenheit streben oder in der Karriereleiter eine höhere Sprosse anstreben, am Ende geht es stets um Macht.«
»Und wonach streben dann Sie?«
»Macht.«, antwortete Phobos so selbstverständlich, als wäre es das Offensichtlichste auf der Welt. »Macht über Terranis und mein Leben. Sie sind da nicht anders, Samantha.«
Sie hasste es, wenn er sie mit ihrem realen Namen ansprach. Es war, als würde er sie dadurch abwerten, auf den einfachen Menschen reduzieren, der sie außerhalb des Frames war. Nyx ahnte, dass er sie damit nur provozieren und ihr eine Reaktion entlocken wollte, obwohl sie nicht verstand, wieso. Also entschied sie, nicht mehr darauf einzugehen.
»Ich habe kein Interesse an Macht.«, antwortete sie gelassen und ließ das eine Bein über der Armlehne baumeln, um entspannt zu wirken.
»Haben Sie nicht?«, fragte Phobos und machte dabei ein erstauntes Gesicht. »Sie hacken absichtlich Systeme, leeren die Konten von Fremden, verwenden gefälschte ID’s und streben danach, Ihre Fähigkeiten auszubauen. Das alles tun Sie, weil Sie genau wie ich wissen, dass Macht mit Kontrolle gleichzusetzen ist. Richtige Kontrolle. Nicht wie die Illusion der einfachen Leute, die glauben, sie besäßen einen freien Willen. Denn die Wahrheit ist, dass ein Großteil der Menschen von ihrem Leben und ihrer Umgebung beherrscht wird und nicht umgekehrt. Kontrolliert von ihren Ängsten, Pflichten oder von kleinlichen Regeln und Gesetzen, die ihnen von außen diktiert werden. Doch Sie, Samantha, sind wie ich. Wir wissen um das Wesen der Kontrolle.«
»Ich bin also wie Sie?«, fragte Nyx und sah ihn mitleidig an. »Ich meine, mal abgesehen vom Offensichtlichen.«
Sein Blick blieb weiterhin ernst, gestählt von einer schier grenzenlosen Selbstsicherheit.
»Ja das sind Sie.«, sagte er. »Sie haben Macht über Ihr eigenes Leben, Sie machen sich nichts aus irgendwelchen Gesetzen oder Vorstellungen, wie man zu sein hat. Sie sind frei und haben die Kontrolle. Doch etwas hält Sie auf, genauso wie mich.«
»Terranis.«, spekulierte Nyx. »Darauf wollen Sie doch hinaus, nicht wahr?«
Phobos nickte bedächtig.
»Genau das ist der springende Punkt. Denn Terranis besitzt Macht über uns. Ihretwegen können wir uns nicht vollkommen frei bewegen, müssen uns zurückhalten, müssen ständig auf der Hut sein. Sie besitzen Antworten auf Fragen, die uns quälen. Und darüber hinaus hat Terranis uns beiden etwas genommen und damit in einen Zustand ewigen Suchens versetzt.«
Dass Phobos so viel über sie wusste, machte es Nyx immer schwerer, ihre lockere Maskerade aufrechtzuerhalten. Sie musste einsehen, dass er klar im Vorteil war, denn sie wusste gar nichts über ihn. Doch vielleicht würde sich das im Laufe des Gesprächs ändern, schließlich wollte Phobos etwas von ihr. Also schwieg Nyx und hörte ihm weiter zu.
»Wir sind die Einzigen, die sich ihnen in den Weg gestellt haben und noch atmen.«, sagte Phobos und seine Stimme klang unheilvoll inmitten der makellosen Stille der Zone. »Wir sind der lebende Beweis ihrer Existenz. Gleichwohl mussten auch wir einen hohen Preis dafür bezahlen.«
»Und was war Ihr Preis?«
»Mein Leben.«
Als die Antwort in der Zone verhallt war, floss die Stille zurück und drängte sich zwischen sie. Nyx glaubte, er hätte einen Scherz gemacht, doch seine versteinerte Miene bewies ihr das Gegenteil.
»Aber Sie leben noch.«, sagte Nyx und lachte unsicher.
»Ist das wirklich so?«, fragte Phobos, verzichtete aber auf eine Erklärung. Der Hass, der sich durch seine harten, kontrollierten Züge fraß, war so giftig, dass Nyx die Wahrheit dahinter nicht infrage stellte.
»Terranis hat mir mein Leben, meine Arbeit, meinen rechtmäßigen Platz auf dieser Welt gestohlen.«, sagte er mit tiefster Verbitterung in seiner Stimme. »Sie haben mir alles genommen. Ich verstecke mich seit einer Ewigkeit vor ihren Blicken und bin doch stets auf der Jagd nach ihnen. Ein Paradoxon sozusagen. Ich bin wie ein Schatten im Schatten der Organisation selbst. Und obwohl ich über einen sehr langen Zeitraum Informationen über sie sammeln konnte, bin ich den Hintermännern und ihren wahren Plänen kaum ein Stück näher gekommen.«
»Das ist doch Bullshit.«, sagte sie. »Das sind auch nur Menschen und die machen Fehler. Niemand ist so mächtig, dass er sich derart verstecken kann.«
»Sind Sie davon wirklich überzeugt?«, fragte Phobos und füllte die Leere zwischen den Worten mit tiefer Bitterkeit. »Macht tritt nie offen ans Tageslicht.«
Sein Gesicht verzerrte sich beinahe wie im Schmerz.
»Glauben Sie ernsthaft, dass die momentanen Aufstände Zufall sind?«, fragte er mit lauter werdender Stimme. »Crow und die Oradrem sind nur Puppen des Puppenspielers, der hinter allen Aktionen von Terranis steckt. Ich konnte Teile der Kommunikation zwischen Crow und einem Agenten von Terranis abfangen, Codename Tek. Terranis hat die Rebellen mit Waffen und Ausrüstung versorgt. Wie sonst hätten sie das Ratsheer so einfach zurückschlagen können? Ein Haufen unkoordinierter Wilder und Exmilitärs wäre dazu nie imstande gewesen.«
Phobos redete sich langsam in Rage, wobei seine Augen von einem gefährlichen Glühen durchdrungen wurden.
»Doch das ist längst nicht alles.«, fuhr er fort. »Der Anschlag auf den Rat ging ebenfalls von Terranis aus, genauso wie die vielen Gerüchte im Frame. Haben Sie jemals versucht, all die Informationen, die im Moment verbreitet werden, zurückzuverfolgen?«
Phobos wartete gar nicht erst auf eine Antwort, sondern sprach einfach weiter.
»Ich schon. Die Spuren verlaufen allesamt im digitalen Nichts. Doch den meisten ist das ohnehin egal, sie nehmen Informationen hin wie sie sind, weil ihnen die Möglichkeit, dass etwas daran falsch sein könnte, gar nicht erst in den Sinn kommt.«
»Aber das würde bedeuten, dass diese Leute mächtiger als der Rat sind.«, sagte Nyx und schüttelte den Kopf, als wollte sie diesen törichten Gedanken abschütteln. »Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.«
»Darin besteht das Problem, Ihnen fehlt die nötige Vorstellungskraft.«, sagte er und sein Ton war mit Frustration geschärft. »Macht ist nichts Offensichtliches, nichts Greifbares, auch wenn sie meist mit viel Besitz einhergeht. In unserer Zeit sind Daten Macht. Die richtige Information klug eingesetzt kann die mächtigsten Personen zu Fall bringen.«
Nyx dachte an den Plan, mit dem sie Marlon reingelegt hatte. Es waren nur ein paar gut platzierte Datensätze gewesen, die seinem Ruf geschadet und ihn vor allen lächerlich gemacht hatten.
»Doch eines haben mir die letzten Wochen bewiesen.«, sagte Phobos und kehrte zu seiner alten Ruhe zurück. Die Emotionen tropften von seinem Gesicht, bis es neuerlich so unergründlich und leer wie die Zone selbst war. »Terranis ist nicht unfehlbar. Eine kleine Gruppe unter der Führung eines Mannes hat es geschafft, ihnen immer wieder empfindliche Wunden zuzufügen, obwohl er sich dieser Tatsache nicht einmal bewusst sein dürfte. Um ihn aufzuhalten, haben sie seinen Ruf zerstört. Er wird im Gefängnis enden, oder noch schlimmer. Auf diese Weise arbeitet Terranis, subtil und im Hintergrund. Sie lassen die Drecksarbeit andere machen, indem sie alles und jeden manipulieren. Wieso jemanden töten, wenn man seine Glaubwürdigkeit infrage stellen und ihn damit isolieren kann?«
Nyx dachte an diesen Major, der in den letzten Tagen ständig in den Medien aufgetaucht war. Der Name des Mannes war ihr allerdings entfallen, sie erinnerte sich nur noch an seinen Spitznamen, den Schlächter.
»Nehmen wir an, all das stimmt, was geht mich die Sache an?«, fragte sie. »Es klingt danach, als sollte man sich von diesen Leuten fernhalten.«
»In der Tat.«, sagte Phobos und strich sich über die graue Hose, als wollte er die letzte Anspannung abwischen. »Doch Fakt ist, dass Sie, Samantha, Informationen über Hort 33 suchen. Fakt ist auch, dass ich Terranis jage. Da Terranis der Drahtzieher hinter Hort 33 ist, ist es also auch in Ihrem Interesse, Terranis zu jagen. Eine einfache Gleichung, nicht wahr?«
»Ich soll Ihnen also helfen, Terranis zu jagen.«, sagte Nyx. »Und dafür bekomme ich Zugang zu all Ihren Informationen?«
»Korrekt.«, bestätigte Phobos ihre Vermutung. »Eine Zusammenarbeit zwischen uns wäre von beiderseitigem Vorteil: quid pro quo.«
Nyx konnte nicht verhindern, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug. Das Versprechen von Wissen über Hort 33 war verlockend und ließ sie für einen Moment vergessen, dass sie einem Fremden gegenüber saß, der genausogut auf der Seite ihrer Verfolger stehen konnte.
»Haben Sie auch irgendwelche Beweise für Ihre Worte?«, fragte Nyx. »Denn wenn Sie glauben, dass ich Ihr Gerede jetzt einfach mal so schlucke und sofort mitmache, dann haben Sie sich ganz schön geschnitten.«
Das Lachen von Phobos explodierte regelrecht. Nyx erschrak durch diese spontane Reaktion.
»Sie hätten mich in der Tat enttäuscht, wäre es so gewesen.«, sagte Phobos und fasste in die Brusttasche seines Sakkos. Er holte einen kleinen, schwarzen Würfel hervor, den er für Nyx gut erkennbar zwischen Zeigefinger und Daumen hielt.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Alle Informationen die ich über Hort 33 besitze.«
Nyx starrte den Würfel an, als wäre er ein heiliges Relikt, das ihr Erlösung von den quälenden Fragen, die sie seit ihrer Kindheit bis in die tiefsten Träume verfolgten, geben könnte. Erlösung von dem stechenden Gefühl der Schuld, das in ihrer Brust feststeckte.
»Ich überlasse Ihnen diese Informationen als Geste meines guten Willens, aber nur unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Sie verlassen noch heute die Stadt.«
Nyx runzelte die Stirn.
»Wieso sollte ich das tun?«
»Ganz einfach.«, sagte Phobos und warf ihr einen finsteren Blick zu. »Weil Sie in großer Gefahr sind.«

City One – Atlantik

Aus den Schmerzensschreien von Rush war ein stilles Gewimmer geworden. Alle zehn Finger seiner Hände standen unnatürlich ab und Schweißtropfen benetzen das blasse Gesicht. Er hatte kein Wort gesagt und langsam wuchs der Zweifel in Walker zu ernsthafter Sorge heran. Was, wenn der Techspezialist doch unschuldig war?
Es bereitete ihm keinerlei Freude, den jungen Mann zu foltern, aber er würde seine Antworten bekommen, falls nötig mit weit schlimmeren Methoden. Seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass man mit Dienst nach Vorschrift niemals ans Ziel kam. Womöglich war Rush wirklich unschuldig, aber dieses Risiko musste er eingehen. Zu viele Indizien sprachen gegen den jungen Mann und zu sehr schrie sein Instinkt, einen Verräter vor sich zu haben.
Sethi hatte kein einziges Mal eingegriffen. Wortlos beobachtend war sie dagestanden und hatte den Schmerzenslauten gelauscht, als wären es Vogelgesänge. Doch jetzt gab sie ihm einen Wink.
»Lehnen Sie sich zurück und entspannen Sie sich, wir sind gleich wieder da mit Ihrem Unterhaltungsprogramm.«, sagte Walker zu Rush und ging mit Sethi soweit zur Seite, dass der Techspezialist sie nicht hören konnte.
»Was, wenn er die Wahrheit sagt?«, fragte sie.
»Dann muss ich wohl den einen oder anderen Drink springen lassen.«
Sethi sah Walker nur an. Walker erwiderte ihren starren Blick ernst.
»Dieses Risiko müssen wir eingehen.«, sagte er. »Wir haben doch alles besprochen. Sie kennen die Details und all die Zufälle, die Holt begleiten. Ich brauche noch mehr Zeit. Er lügt, ich weiß es.«
»Das dachten Sie zu Beginn auch von mir.«, warf Sethi ein.
»Stimmt.«, sagte Walker. »Aber hier gibt es zu viele Indizien. Lassen Sie mich weitermachen.«
Walker hätte jetzt gerne gewusst, was hinter ihrem hübschen Kopf vor sich ging, aber sie ließ sich nicht in die Karten blicken.
»Na gut, machen Sie weiter.«
Walker nickte kurz und gemeinsam kehrten sie zu Rush zurück.
»Wer hat Sie beauftragt?«, fragte er, kaum, dass er den verletzten Techspezialist erreicht hatte.
Walker wollte einfach nicht glauben, dass er sich abermals getäuscht hatte. War sein Instinkt zusammen mit einem Teil seiner Menschlichkeit verloren gegangen? Wann hatte er seinen letzten großen Fall bearbeitet? Das lag schon Jahre zurück. Nein, er durfte sich nicht täuschen.
»Niemand.«, schrie Rush verzweifelt. »Niemand hat mich beauftragt. Ich bin unschuldig!«
»Ursprünglich hätte ein gewisser Gabriel Marquez Techspecialist für das neue Ghostteam werden sollen.«, sagte Walker unbeirrt. »Doch zufälligerweise starb er zwei Tage vor seinem Einsatz bei einem Verkehrsunfall. Angeblich überhöhte Geschwindigkeit.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«, fragte Rush. »Ich habe ihm nicht gesagt, dass er zu schnell fahren soll.«
»Einer dieser vielen Zufälle, die Sie begleiten, Mister Holt. Oder wie wäre es damit: Wenige Tage nach den Vorfällen in Johannesburg versuchen Sie den Zentralrechner des Rats zu hacken, lassen sich erwischen wie ein Anfänger, kommen in das Cyberwar-Ausbildungsprogramm und werden kaum drei Wochen später zum Techspecialist in einem Ghostteam befördert.«
»Was kann ich denn dafür, wenn diese Loser ihre Systeme nicht im Griff haben?«, fragte Rush. »Das war wie eine Einladung.«
Walker lächelte ein eisiges Lächeln.
»Und genau da ist das nächste Problem. Sie lassen sich bei Ihrem Hack auf den Zentralrechner erwischen, deklassieren aber genau einen Tag nach dem Unfall von Marquez das gesamte Cyberwar-Team mit einem eindrucksvollen Hack, woraufhin man Sie die Akademie überspringen lässt, direkt in das neue Ghostteam. Passt für meinen Geschmack nicht zusammen.«
Walker ließ seine Worte kurz wirken, ehe er fortfuhr.
»Ich kenne Typen mit Ihrer Geschichte. Diejenigen, die wirklich etwas drauf haben, wären nie so dumm, ein solches Risiko einzugehen. Man bleibt unter dem Radar und hackt nicht die Nachrichtenabteilung des Ratsheeres.«
»Fuck, nennen Sie es jugendlichen Übermut.«, sagte Rush. »War ne blöde Wette mit einem Freund, der meinte, man könne die Anlage nicht hacken.«
»Klar.«, sagte Walker. »Also nur ein weiterer Zufall, nicht wahr?«
Rush verzichtete auf eine Antwort und schüttelte stattdessen nur den Kopf. Walker ging ein paar langsame Schritte vor Rush hin und her. Die Stiefel, die er über seinen Implantaten trug, erzeugten mit jedem Schritt aufdringliche Geräusche.
»Sie waren auch nur zufällig in der perfekten Position, um den Informationsfluss zu manipulieren.«, sprach er weiter. »Genauso wie Sie zufällig der Einzige waren, der die Daten aus den Implantaten des Phantoms hatte. Sie wussten, wo der Attentäter zu finden war und Sie wussten, wie Sie den Lieutenant gegen den Major ausspielen mussten, damit er alleine agiert.«
»Das ist doch alles Bullshit, Mann.«, sagte Rush, müde sich wiederholen zu müssen.
»Was mich gleich an Ihnen gestört hat, war, dass Ihnen nichts Verdächtiges am Profil des Attentäters aufgefallen ist, obwohl es doch selbst für einen mittelmäßigen Polizisten offensichtlich gewesen sein musste, dass es sich dabei um eine falsche Identität handelt, die nur einer oberflächlichen Kontrolle standhalten sollte. Ein Hacker von Ihrem Kaliber weiß doch besser als jeder andere, wie man Profile und Identitäten fälscht und entlarvt.«
»Scheiße, ja das …«, sagte Rush und seufzte. »Das war echt beschissene Arbeit von mir. Aber das war mein erster richtiger Einsatz und dann noch dazu einer mit so viel Action und Verantwortung. Ich war nervös und überfordert. Es tut mir leid.«
»Klar, ich glaube Ihnen jedes Wort.«, sagte Walker. Der Sarkasmus tropfte regelrecht von seinen Lippen. »Alles Zufälle, genauso wie der, dass irgendeine dahergelaufene Möchtegernreporterin passenderweise eine Geschichte aus der Vergangenheit ausgräbt, die auch den letzten Zweifel an der Schuld des Majors auslöscht. Und die streng geheimen Aufzeichnungen seiner Implantate sind auch zufällig von der Polizei an die Medien weitergegeben worden und nicht von Ihnen.«
Hilfesuchend sah Rush Sethi an.
»Sehen Sie nicht, dass dieser Mann ein Wahnsinniger ist?«, fragte er. »Er hat schon so lange keinen richtigen Fall mehr bearbeitet, dass er sich irgendwas in seinem kranken Kopf zusammenreimt. Das müssen Sie doch sehen.«
Walker machte einen Schritt weg von Rush, zog eine Zigarette aus der Verpackung und zündete sie an, während er die Reaktion der indischen Soldatin beobachtete, die sich jäh von der Wand löste. Mit eingefrorenen Gesichtszügen näherte sie sich dem Verhör. Einen Moment lang glaubte Walker, sie würde Rush aus seiner misslichen Lage befreien, doch stattdessen packte sie die linke Hand des Techspezialisten und drückte zu. Dieser stieß einen entsetzlichen Schmerzensschrei aus. Gnadenlos hielt Sethi die gebrochenen Finger umschlossen.
»Wenn sich herausstellen sollte, dass Sie das waren, sind Sie erledigt.«, zischte sie. »Sie sollten besser reden.«
Erst dann ließ sie seine Hand los und kehrte an ihren Platz an der Wand zurück.
»Scheiße.«, brach es aus Rush heraus. Seine verletzte Hand wurde von Schmerzen gebeutelt. Das trübe Licht der Deckenbeleuchtung spiegelte sich in den feinen Schweißtropfen auf seiner Stirn wider.
»Ihr seid beide wahnsinnig geworden!«, sagte er und senkte den Kopf.
»Von wem bekommen Sie Ihre Befehle?«, fragte Walker.
Als Rush ihm weder antwortete noch den Blick hob, schlug er ihm ins Gesicht. Rush spuckte einen Batzen Blut auf den Boden und hustete einen unverständlichen Fluch. Walker hob die Faust zu einem weiteren Schlag, da zuckte Rush endgültig zusammen. Er nahm die verletzten Hände schützend vor das Gesicht.
»Bitte hören Sie auf!«, winselte er. »Sie haben gewonnen.«
Er sah Walker resigniert durch die verkrümmten Finger hindurch an. »Ich sage Ihnen alles, was Sie wissen wollen.«
Walker entspannte sich, verschränkte die Arme vor der Brust und machte dann eine einfache Geste.
»Dann legen Sie mal los.«
»Sie haben Recht, ich wurde bezahlt, um den Major reinzulegen.«
Walker sah die Ausschläge seines Sozialmoduls. Sie zeichneten jetzt ein deutlicheres, wenn auch nicht perfektes Bild: Rush schien mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa siebzig Prozent zu lügen.
»Was genau sollten Sie für diese Leute tun?«, fragte Walker.
Er musste weitermachen, musste die Wahrheit herausfinden, egal wie sie lauten würde. Rush bewegte den Kopf hin und her, als wäre er noch unschlüssig, ob er es wirklich sagen sollte.
»Den Major alleine in diese Fabrik locken.«
»Und die Daten aus dem Implantat des Phantoms?«
»Waren wertlos.«, sagte er. »Alles erfunden.«
Walker resignierte innerlich. Rush erzählte ihm nur, was er hören wollte. Eine typische Reaktion von Gefolterten, die den Schmerzen zu entrinnen suchten. Entweder das oder es war ein weiteres geschicktes Manöver, was er jedoch für äußerst unwahrscheinlich hielt.
Einen Augenblick lang dachte Walker daran, das Verhör abzubrechen, wäre da nicht sein Instinkt gewesen, der ihn warnte. Er zwang sich, die Befragung fortzusetzen.
»Wer ist Ihr Auftraggeber?«
»Leute von Crow.«, antwortete Rush. Seine Stimme war nur noch ein mutloses Geleier. »Ich werde Sie zu ihnen führen, wenn Sie mich nur hier raus lassen.«
Diese Antwort ließ Walker aufhorchen. Es war ein verzweifelter Versuch, seiner misslichen Lage zu entfliehen. Walker musste die Geschichte weiter hinterfragen, damit sich Rush selbst in Widersprüche verstrickte. Womöglich würde er dadurch zum Kern der Wahrheit vordringen, obwohl er inzwischen daran zweifelte.
»Und wann sind die Leute von Crow an Sie herangetreten?«
»Unmittelbar nach meiner Beförderung zum Techspec des Ghostteams.«
»Interessant wie schnell diese Leute reagiert haben.«, stellte Walker fest. »Wie wurden Sie kontaktiert?«
»Über den Frame.«
»Und Sie haben diesen Leuten sofort blind vertraut?«
Rush zögerte einen Moment.
»Sie haben mir gedroht.«, stammelte er schließlich, als wäre es ihm peinlich.
»Womit?«
»Sie sagten, Sie würden mich töten, wenn ich es nicht tun würde.«
»Ich dachte, es ginge dabei um Geld.«
»Ja, das war ein zusätzlicher Anreiz.«
»Drohungen und Geld also?«
»Ja, sagte ich doch.«
»Und Sie haben keine Sekunde daran gedacht, das zu melden oder dem nachzugehen, Sie als Superhacker? Immerhin arbeiten Sie für eine der mächtigsten Institutionen der Welt.«
»Ich hatte Angst, okay?«
Walker machte eine Pause und drehte sich nachdenklich um. Hatte er sich wieder getäuscht? Ein Teil von ihm beschwor ihn aufzuhören, ein anderer, weiterzumachen.
Während er die Werte des Sozialmoduls betrachtete, spielte er bereits mit dem Gedanken, das Verhör abzubrechen. Doch etwas an den ausgewerteten Daten stimmte nicht, etwas auf das er bisher wenig geachtet hatte. Obwohl Rush verwirrt und eingeschüchtert wirkte, zeigte sein Körper kaum Anzeichen von Nervosität. Ein wirklich verängstigter Mann hätte bestimmte Mikroexpressionen zeigen müssen und diese fehlten bei Rush.
»Detective?«, fragte Sethi und schickte ihm einen strengen Blick zu.
Walker wusste, dass ihre Geduld gefährlich nah Richtung Nullgrenze tendierte. Er hatte nur noch diese letzte Chance und wandte sich um.
»Sie hatten also Angst?«, setzte er das Verhör neuerlich fort.
Rush sah ihn im ersten Moment verwirrt an.
»Das habe ich doch gerade gesagt.«
»Haben Sie auch jetzt Angst?«, fragte Walker und ging näher an Rush heran.
»Ja, Sie machen mir Angst, verflucht nochmal.«, sagte er und präsentierte ein verängstigtes Gesicht. »Macht Sie das irgendwie geil oder so?«
»Detective, Sie haben sich getäuscht.«, sagte Sethi plötzlich hinter ihnen. »Beenden Sie das Verhör!«
Walker hörte nicht auf sie. Er war jetzt nur noch wenige Zentimeter von Rushs Gesicht entfernt.
»Sie fürchten sich zurecht.«
Eine der Klingen schnellte aus der Vorrichtung an seinem Unterarm. Rush zuckte zusammen und starrte auf die schwarze Schneide, direkt an seinem Hals. Als auch Sethi das sah, zog sie ihre Waffe und richtete sie auf Walker.
»Detective, gehen Sie weg von ihm!«

Zone: Phobos Zone

»Welche Gefahr soll das bitte sein?«, fragte Nyx, da sie die Prophezeiung von Phobos nicht besonders ernst nahm. »Ree hat auch schon davon gesprochen.«
»Die Leute, die nach Ihnen suchen, sind näher, als Sie vermuten.«
»Wie nahe?«
»Sie sind bereits in Chicago.«, antwortete Phobos. »Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie Ihren Aufenthaltsort gefunden haben.«
»Das glaube ich nicht.«, sagte Nyx und schüttelte den Kopf.
Wie sollten sie ihr so nahe gekommen sein? Sie hatte stets auf potenzielle Sicherheitslücken geachtet. Wenn es um die Sicherheit ihrer Systeme ging, ließ sie sich auf keinerlei Kompromisse ein. Selbst während des Kampfs im Pain hatten ihre Maßnahmen gehalten. Außerdem nutzte sie ständig andere Identitäten.
»Glauben Sie es nicht oder wollen Sie es nur nicht glauben?«, fragte Phobos. »Sie waren in letzter Zeit unvorsichtig, Samantha.«
»Lassen Sie das!«, entkam es Nyx, ehe sie sich wieder im Griff hatte.
»Ich kann Sie nicht schützen, sondern Sie nur warnen.«, sagte Phobos und ließ den Würfel in seiner Brusttasche verschwinden. »Sehen Sie es einfach als zusätzlichen Anreiz.«
Nyx schluckte die Enttäuschung herunter und unterdrückte den Impuls, ihm den Datenspeicher zu entreißen.
»Und woher wollen Sie das alles wissen?«
»Ich weiß vieles, denn Informationen sind meine Währung.«
Nyx setzte sich aufrecht hin und streifte ihre gespielte Gelassenheit ab, während sie den mysteriösen Mann misstrauisch ansah. »Sie erwarten von mir, dass ich Ihnen einfach so vertraue, obwohl ich gar nichts von Ihnen weiß.«
»Die Warnung sollte Vertrauensbeweis genug sein.«, antwortete Phobos. »Außerdem wissen Sie jetzt, dass wir auf derselben Seite stehen.«
»Das sind keine Beweise.«, erwiderte Nyx. »Sie könnten genau so gut zu meinen Verfolgern gehören. Wer sind Sie überhaupt und warum verstecken Sie sich vor diesen Leuten? Geben Sie mir wenigstens eine Hand voll Antworten.«
»Ich kann nicht.«, sagte er sachlich. »Es ist ein zu großes Risiko.«
»Sie vertrauen mir nicht, obwohl sie so gut wie alles von mir zu wissen scheinen.«, entgegnete sie missmutig. »Ich aber soll Ihnen ohne ähnliches Wissen blind vertrauen. Klingt nicht gerade fair.«
Phobos verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Blick driftete das erste Mal seit Beginn ihres Gesprächs ab.
»Vertrauen.«, stöhnte er abfällig, als wäre das Wort wie ein Splitter in seiner Zunge. »Nicht mehr als ein Synonym für Enttäuschung und Schmerz. Wenn Sie Vertrauen wollen, kaufen Sie sich einen Hund. Hier geht es um so viel mehr, sehen Sie das denn nicht?«
Nyx stieß ein schwaches, humorloses Lachen aus, ehe sie den Kopf schüttelte.
»Schon interessant, wenn man bedenkt, dass ich nicht einmal sicher sein kann, dass da gerade ein Mann vor mir sitzt.«
»Man kann nie sicher sein, das macht das Leben aus.«, sagte Phobos. »Wo wären Sie wohl heute, wenn Sie nie ein Risiko eingegangen wären?«
»Und Sie?«, warf ihm Nyx die eigene Frage zurück. »Wo wären Sie?«
Schweigen füllte den geräuschlosen Raum der endlosen Zone. Sie wollte seinem stechenden Blick entgehen, doch die Leere der Zone gab ihr keine Ausweichmöglichkeiten. Da waren nur Phobos und sie. Nyx wusste, dass die Situation verfahren war, aber sie konnte diesem Mann unmöglich blind vertrauen, auch wenn sie mehr als alles andere den Datenwürfel begehrte. Einen Moment lang überlegte sie, ihn in der Zone einzusperren, doch sie verwarf den Gedanken wieder. Es war seine Zone und sie wusste nicht, was ein Eingriff in den Code auslösen würde. Trotzdem wagte sie einen Vorstoß mit einem Bewusstseinsfragment. Eine Zeit lang gelang es ihr, die Verbindung von Phobos zurückzuverfolgen. Er verbarg seine Signatur jedoch so geschickt hinter unzähligen Proxys, falschen Adressen und gekaperten Anschlüssen, dass sie auch die letzte Spur bald im endlosen Labyrinth des Frames verlor.
»Sie werden kein Glück haben.«, sagte Phobos, als hätte er erkannt, was Nyx versuchte.
»Vielleicht versuchen Sie ja nur Zeit zu schinden, während diese KI einen Angriff auf mich vorbereitet.«, entgegnete Nyx.
»Niemand bereitet einen Angriff auf Sie vor, Samantha.«, sagte Phobos. »Wie bereits erwähnt stehen wir auf derselben Seite, das gilt auch für meine KI.«
Nyx wollte sich abwenden und nachdenken, doch sie verlor sich abermals in dem endlosen Weiß. Ein paar Sekunden irrte ihr Blick ziellos umher, bis sie den Anblick nicht länger ertrug und sich Phobos erneut stellte.
»Ich habe nicht um dieses Treffen gebeten.«, sagte sie und erhob sich von ihrem Stuhl. »Ich bin nicht bereit, auf eine ungleiche Zusammenarbeit einzugehen. Aus diesem Grund werde ich jetzt gehen.«
»Wollen Sie das wirklich?«, fragte Phobos und blieb seelenruhig sitzen. »Ich biete Ihnen Antworten auf all Ihre Fragen und noch viel mehr. Wenn Sie mit mir kooperieren, werde ich Sie in meine größten Geheimnisse einweihen. Ich überlasse Ihnen all mein Wissen über Programmierung und künstliche Intelligenz. Ich kann Sie zu einer Göttin unter den Hackern machen.«
Phobos holte noch einmal den Speicherwürfel hervor und drehte ihn gut sichtbar zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Das hier ist mein Geschenk an Sie und alles was Sie dafür tun müssen, ist, die Stadt noch heute zu verlassen.«
Nyx biss die Zähne so fest zusammen, dass es schmerzte und ihre Lippen zwei schmale Striche wurden. Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas derart begehrt wie diesen Speicherwürfel und das, obwohl er kaum mehr als ein Versprechen war. Dahinter konnte sich gar nichts, Lügen oder, noch viel schlimmer, eine Falle verstecken. Auch die Geheimnisse von Phobos selbst waren verlockend, doch Nyx blieb hartnäckig und schob das Drängen ihrer Gefühle beiseite. Zu oft war sie enttäuscht und in einen Hinterhalt gelockt worden. Diesmal würde das nicht geschehen. Sie war noch immer der Host dieser Zone und sie hatte die Kontrolle. Phobos musste erkennen, dass Sie bereits eine Göttin war.
»Ich habe keinerlei Grund, Ihnen auch nur ein einziges Wort zu glauben.«, sagte sie und wunderte sich selbst über die Härte in ihrer Stimme. »Das könnte genauso gut nichts sein. Aber ich denke, das kann ich ganz schnell herausfinden.«
Die Teile ihres Maschinenbewusstseins kehrten zurück und griffen in den komplexen Code der Zone ein. Tiefschwarze Tränen schienen vom Himmel zu stürzen und das perfekte Weiß aufzufressen, bis nur noch Dunkelheit zurückblieb. Fesseln schossen wie Tentakel aus dem dunklen Leder des Stuhls und umklammerten Arme, Beine und Oberkörper von Phobos, bis er sich nicht mehr bewegen konnte. Doch nicht etwa Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben, sondern Zufriedenheit.
Nyx baute sich vor ihm auf.
»Verzeihen Sie, aber ich sehe nur kurz nach, ob Sie mich hier verarschen wollen.«, sagte sie selbstsicher. »Wenn ja, wird Ihnen Ihre KI auch nicht mehr helfen können.«
»Zonereset.«, sagte Phobos, noch bevor Nyx nach dem Datacube greifen konnte.
Mit einem Mal wandelte sich die Zone und alles war wie zuvor. Das endlose Weiß kehrte jäh zurück, Phobos war wieder frei und ihr Maschinenbewusstsein stand vor einem vollkommen veränderten Quellcode. Es würde einige Minuten dauern, bis sie ihn erneut durchschaut hatte.
»Sie haben mich nicht enttäuscht, Samantha.«
Eine kurze Pause entstand, in der Nyx die zersplitterten Teile ihrer Fassung auf dem Boden ihrer Selbstsicherheit zusammensuchte. Sie spürte das Blut in ihren Schläfen pulsieren. Ein Zittern durchlief ihren Körper. Was war gerade geschehen, wie machte er das? Er hatte hier doch keine Kontrolle.
»Ich wusste, Sie sind wie ich.«, sagte Phobos und zeigte sich fasziniert. »Ihr Potential ist grenzenlos.«
Nyx war noch verwirrter als zuvor. Sie musste sich hinsetzen, damit sie nicht ins Schwanken geriet. Für eine Weile war sie nicht imstande, zu antworten. Phobos wog den Würfel für einen Moment auf der geöffneten Handfläche, als wäre er eine Köstlichkeit, deren Inhalt zu kosten sich lohnte. Dann hielt er ihn ein Stück weit vor sich.
»Datacube öffnen.«
Nyx erschrak, als sich die Zone ein weiteres Mal veränderte. Wie war das möglich, wenn doch sie der Host war? Einen Moment lang wollte sie aufschreien, dem Kontrollverlust ein Wort geben, doch dann verstand sie die Veränderung.
Kreisförmig um die beiden Stühle öffneten sich Datenfenster, Bilder und andere Informationen. Nyx musste sich an der Lehne des Lederstuhls festhalten, um ihr Gleichgewicht halten zu können.
»Hier haben Sie Ihr Vertrauen.«, sagte Phobos und verzahnte seine Finger ineinander, während er die Reaktion von Nyx genau beobachtete, als hätte er von Anfang an nur auf diesen Moment gewartet.
Nyx erkannte augenblicklich, dass es sich dabei um Informationen über Hort 33 handelte.
»Hort 33.«, begann Phobos. »Ist nur der Code für diese eine Einrichtung, in die man Sie als Kind gebracht hat.«
Nyx löste sich von dem Stuhl und näherte sich den schwebenden Datensätzen. Sofort war der Schock vergessen, dass Phobos die Zone scheinbar nach seinen Wünschen manipulieren konnte.
»Es gab noch andere Horte und andere Projekte. Waisenheime auf der ganzen Welt waren Teil dieser Experimente. Kinder ohne ID’s, die niemand vermisste und die nirgends aufschienen. Ideale Testobjekte.«
Nyx stand mit geöffnetem Mund da und betrachtete Projektdaten und Bilder. Phobos hatte nicht gelogen, er wusste von Hort 33. Ihr Herz schlug vor Aufregung wie wild gegen ihre Brust.
»Woher …«, fragte sie, ohne den Rest auszusprechen.
»Woher ich diese Informationen habe?«, vollendete Phobos ihren Satz. »Wie bereits erwähnt, bin ich schon sehr lange auf der Jagd.«
Nyx fand bruchstückhafte Daten zu dem Gehirnimplantat, das sie hinter ihrer Stirn trug. Spezifikationen, technische Details und Zielvorgaben. Sie sah Kommunikationsschnipsel zwischen Verantwortlichen von Hort 33 und namenlosen Vorgesetzten, sie las Namen von Kindern und vieles mehr. Ihre Sinne versuchten, alles zu verarbeiten, um ja nichts zu übersehen, doch es war zu viel auf einmal.
Plötzlich verschwanden all die Informationen vor ihren Augen und sie starrte abermals in das endlose Weiß der Zone. Wutentbrannt wandte sie sich um.
»Was soll das?«
Phobos provozierte sie mit einer lockeren Sitzhaltung. Sein Blick ruhte durchdringend auf ihr. Nyx wurde das Gefühl nicht los, dass er nur mit ihr spielte, was ihre Wut nur noch weiter anfachte.
»Sie wollten doch einen Vertrauensbeweis.«, sagte er.
Nyx wollte sich auf ihn stürzen und ihm den Datenwürfel entreißen, doch sie kämpfte den Impuls zurück.
»Wenn Sie die Stadt verlassen, werden Sie auch den Rest der Informationen erhalten. Versprochen.«
»Ich muss nur die Stadt verlassen und Sie übergeben mir die Daten einfach so?«, fragte Nyx misstrauisch. »Ich bin nicht verpflichtet, Ihnen zu helfen?«
»Sie sind zu gar nichts verpflichtet. Sie sind ein freier Mensch.«, antwortete Phobos und öffnete die Hände zu einer kurzen Geste, ehe er sie wieder schloss. »Aber Fakt ist, dass diese Informationen keinerlei Wert für Sie haben.«
»Was meinen Sie mit keinerlei Wert?«
Phobos nickte. Es schien ihm ernst zu sein.
»Hort 33 existiert nicht mehr.«, eröffnete er ihr. »Sie werden vielleicht ein paar weitere Puzzlestücke besitzen, aber das Gesamtbild wird Ihnen immer verborgen bleiben. Sie sind wie ein Kind, das blind in einem Ameisenhaufen herumstochert, ohne zu wissen, was wirklich darin vor sich geht.«
Seine harte Stimme durchdrangen düstere Töne.
»Terranis steckt hinter Hort 33 und wenn Sie wissen wollen, warum man das mit Ihnen gemacht hat, müssen Sie sich mit mir zusammentun. Der Schlüssel zu allem ist Terranis, ob Sie mir nun glauben oder nicht.«
»Und was haben Sie vor?«, wollte Nyx wissen. »Sie sagten doch, Sie wären in all der Zeit nie an die Hintermänner herangekommen. Wie soll ich Ihnen dabei helfen?«
»Ich konnte den Aufenthaltsort eines abtrünnigen Agenten von Terranis herausfinden, der nicht länger in ihren Diensten steht.«, erklärte Phobos. »Das Problem ist, dass er sich in einem speziellen Gefängnis befindet.«
Nyx hörte seine Stimme wie ein fernes Echo. Es dauerte eine Weile, bis sich die Worte hinter ihrer Stirn zu einem sinnvollen Ganzen zusammensetzten. Ein abtrünniger Agent von Terranis.
»Ein spezielles Gefängnis?«
»Es handelt sich dabei um eine Anlage, in der nur ganz bestimmte Individuen eingesperrt werden. Offiziell existiert diese Einrichtung nicht. Der Rat weiß davon und ignoriert sie wie der Rest der Welt.«
»Und wo soll dieses Gefängnis sein?«
»Am Nordpol.«
»Verdammt kalt dort«, sagte Nyx, damit sie irgendetwas sagte. »Wie haben Sie den Mann überhaupt gefunden?«
»Zu viel Neugierde kann gefährlich sein.«
»Sprechen Sie da aus Erfahrung?«
Obwohl Phobos auf eine Entgegnung verzichtete, glaubte sie, die Antwort im kurzen Aufflackern seiner Augen zu erkennen.
Nyx dachte über seine Worte nach. Wenn es da wirklich einen ehemaligen Agenten von Terranis gab, dann wusste er vielleicht mehr über die Hintermänner, womöglich sogar über die Hauptverantwortlichen und ihre Pläne. Aber vor allem bestand die Möglichkeit, dass er über den derzeitigen Aufenthaltsort von Betty und den anderen Kindern Bescheid wusste.
»Sie wollen ihn dort rausholen?«, fragte Nyx. »Und brauchen dafür meine Hilfe.«
»Ja, das hatte ich im Sinn.«, gestand Phobos. »Wer wäre ein besserer Verbündeter im Kampf gegen Terranis als ein ehemaliger Agent, den man fallen gelassen hat? Aber dies wäre nur der erste Schritt, Ihr erster Auftrag sozusagen.«
Die Gedanken schossen wie entfesselte Atome durch ihren Kopf. Wenn das alles stimmte, hatte sie nach so langer Zeit endlich eine Chance auf Antworten, eine Chance Betty doch noch zu finden und eine Chance auf neues Wissen. Phobos und seine Versprechungen klangen äußerst attraktiv.
»Und wie wollen Sie das anstellen?«, fragte Nyx. »Ich bin nur eine Hackerin, keine Agentin.«
Phobos winkte ab.
»Ich bin dabei ein Team zusammenzustellen. Aber machen Sie sich keine Gedanken darüber.«, sagte er und sein Blick wurde drängend. »Ihr primäres Anliegen sollte sein, erst einmal von der Bildfläche zu verschwinden. Am besten Sie verlassen die Stadt noch heute und nutzen in den kommenden Tagen den Frame nicht.«
»Und was, wenn ich mich doch dagegen entscheide?«, fragte Nyx. »Was, wenn ich bei Ihrem Plan nicht mitmachen möchte und in einer Woche einfach die Zone betrete?«
Phobos lehnte sich in dem Stuhl zurück und faltete die Hände im Schoß.
»Dann kann ich nichts dagegen tun. Sie nehmen die Informationen über Hort 33 an sich und gehen Ihrer Wege, auch wenn ich nicht glaube, dass das geschehen wird. Denn das würde bedeuten, dass Sie nie erfahren, welches Schicksal die anderen Kinder erlitten haben. Außerdem …«, er machte eine Pause, in der er lächelte, »sind Sie neugierig auf mein Wissen.«
Nyx biss die Zähne zusammen. Sie fühlte sich innerlich zerrissen. Ein Teil von ihr war mutig und wollte es riskieren, Phobos zu vertrauen. Dieser Teil sehnte sich danach, die Geheimnisse von Terranis, Phobos und ihrer eigenen Vergangenheit zu ergründen. Doch die pragmatische Seite in ihr, die sie all die Jahre vor Gefahren beschützt und am Leben gehalten hatte, hielt sie zurück. Dieser Teil von ihr meldete sich beim geringsten Anzeichen von Gefahr, ließ sie keine unnötigen Risiken eingehen und bewahrte sie vor Dummheiten. Nyx spürte den Kampf um die Entscheidung in ihrem Bewusstsein und wie er sich auf ihren Körper ausweitete. Ihre Pulsfrequenz stieg an, ihre Atmung beschleunigte sich und sie wollte am liebsten vor der Entscheidung davonrennen, ohne sich noch einmal umzusehen. Doch sie saß nur in dem schwarzen Lederstuhl und rang still mit sich.
Ihre Risikobereitschaft hätte den Kampf beinahe gewonnen, wäre da nicht auch noch eine dritte, weitaus stärkere Kraft gewesen, die sich hinter den Pragmatismus stellte und die jeden wachen Moment in ihrem Leben präsent war: die Angst. Eine Angst, die so tief saß, dass sie integraler Bestandteil ihres Wesens geworden war. Wie ein Fehler im Code eines Programms, den man nicht löschen konnte, ohne auch den Rest zu zerstören. Sie sollte einfach so einem fremden Mann vertrauen, von dem sie nichts wusste, außer dass er angeblich von denselben Leuten benutzt worden war wie sie selbst.
Der geduldige, prüfende Blick von Phobos hatte inmitten der farblosen Ewigkeit der Zone eine geradezu versengende Intensität. Es war, als hätte man sie nackt auf eine leere Bühne geschleift und hunderte Scheinwerfer auf sie gerichtet. Sie spürte die Hitze regelrecht in sich aufsteigen. Der Druck wuchs mit jeder Sekunde weiter an, in der sie mit ihm allein war. Die unnatürliche Stille schwoll zu einem unbändigen Rauschen in ihren Ohren heran, gepaart mit den Donnerschlägen ihres eigenen Herzens. Selbst die Zone schien nur ein Trick zu sein, ein Mittel, um eine rasche Entscheidung herbeizuführen.
Nyx schreckte auf, als sich die Hand von Phobos in ihr Blickfeld schob. Zuerst sah sie ihn überrascht an, dann das, was er in der Hand hielt. Es war eine Karte, auf der eine Frame-Adresse stand. Ein mehrstelliger Code, bestehend aus Zahlen, Buchstaben, getrennt durch Sonderzeichen.
»Diese Zone wird nur eine Woche lang geöffnet sein, und zwar ausschließlich für Sie, Nyx.«, sagte Phobos, der ihr die Karte weiterhin entgegenstreckte. »Niemand wird dort auf Sie warten, nur der Datacube. Wenn Sie mir dort eine Nachricht hinterlassen, werde ich wissen, wie Sie sich entschieden haben. Sie haben diese eine Woche für Ihre Entscheidung, danach werden Sie nie wieder etwas von mir hören, versprochen. Mit der Zone wird sich auch die einzige Chance für Sie schließen, die Wahrheit zu erfahren und zu lernen, was ich bereits weiß.«
Zögernd nahm Nyx die Karte entgegen und starrte darauf, als wäre sie etwas Magisches. Der Zeichencode war präzise in der Mitte des weißen, festen Papiers gedruckt, beinahe wie eingestanzt.
»Verlassen Sie die Stadt, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist.«, sagte Phobos noch einmal eindringlicher als zuvor. Dann erhob er sich von seinem Platz und sah sie ein letztes Mal mit durchdringendem Blick an. »Sie werden Ihre Entscheidung nicht bereuen, das verspreche ich Ihnen.«
Mit diesen Worten verabschiedete sich Phobos und verschwand, wie er gekommen war.

City One – Atlantik

»Es reicht. Sie haben Ihr Geständnis.«, sagte Sethi und zielte aus sicherer Entfernung mit der Pistole auf den Hinterkopf von Walker. »Er soll uns zu diesen Leuten führen.«
Walker ließ sich nicht beirren. Seine Klinge kratzte gefährlich über den Hals von Rush. Dabei sah er dem Techspezialisten in die Augen und beobachtete zugleich die Anzeigen seines Interfaces.
»Sie werden hier unten sterben, wenn Sie mir nicht gleich die Wahrheit sagen?«
»Helfen Sie mir, Lieutenant!«, schrie Rush auf, doch seine Reaktion stimmte nicht zu hundert Prozent mit den Daten aus dem Sozialmodul überein.
»Detective!«, drohte Sethi hinter Walker.
»Sie kann Ihnen nicht helfen.«, sagte er zu Rush. »Bevor sie schießen kann, habe ich Sie wie ein Schwein aufgeschlitzt.«
»Ich hab doch schon gestanden, was wollen Sie denn noch von mir?«, zischte Rush und für einen kurzen Augenblick huschte ein Schatten über sein Gesicht. Es war eher eine ungeduldige und wütende Reaktion als eine verzweifelte. Das Sozialmodul bestätigte diese Beobachtung.
In diesem Moment wusste Walker, dass Rush log. Seine Performance war überragend. Beinahe hätte er ihn getäuscht, doch jetzt war Schluss mit dem Spiel. Die Zweifel verfolgen endgültig. Eine solch schauspielerische Leistung konnte nur bedeuten, dass der junge Techspezialist ein Agent war.
Walker fuhr die Armklinge zurück in die Halterung. Die schwarze Panzerung am Unterarm klappte zu, als hätte es die Waffe nie gegeben. Dann hob er beide Arme über den Kopf und richtete sich langsam auf.
»Holt hat Recht, Sie sind verrückt geworden.«, sagte Sethi.
»Sie irren sich.«, gab Walker zurück. »Sein Auftritt war wirklich außergewöhnlich, das muss ich ihm lassen. Allerdings hat er uns gerade bewiesen, dass er alles andere als ein kleiner Gauner ist.«
»Fuck, das darf doch alles nicht wahr sein!«, ächzte Rush. »Lassen Sie mich doch endlich in Ruhe, Mann.«
»Ich fürchte, ich kann Ihren unlogischen Schlüssen nicht ganz folgen.«, sagte Sethi.
»Niemand hat unseren Freund hier bezahlt.«, gab Walker zurück. »Er gehört zu diesen Leuten.«
Er wandte sich wieder an Rush.
»Sie sind ein Agent, der von Anfang an eingeschleust wurde, um dieses Ghostteam zu sabotieren. Nicht wahr?«
»Ficken Sie sich ins Knie!«, zischte Rush. »Ich hab nur meine Arbeit gemacht und das ist die Belohnung dafür?«
»Kommt da etwa die dunkle Seite in Ihnen zum Vorschein, Specialist?«
»Ich kann mich selbst verarschen, Wichser!«, entkam es Rush und ein neuartiger Ausdruck blitzte unter der Schicht aus gespielter Angst auf. All das geschah nur für einen kurzen Augenblick, eine Sekunde, in der Rush seinen Hass ohne Maskerade zur Schau trug.
»Sehen Sie das, Lieutenant?«, fragte Walker und säte Zweifel in die Soldatin. »Würde jemand wie er in einer solchen Situation so reagieren?«
»Ich will einfach nur raus hier!«, schrie Rush. »Das ist alles.«
Sethi zögerte, die Waffe noch immer auf den Detective gerichtet. Walker ignorierte diese Tatsache, nahm die Hände herunter und zündete sich eine Zigarette an.
»Sie haben hier keine Freunde.«, sagte er zu Rush und saugte den Rauch in seine Lungen. »Aber sie können sich welche machen, wenn Sie mit der Wahrheit rausrücken.«
Als Sethi eine Sekunde unachtsam war und die Waffe mehr zwischen ihren Fingern hing als auf ihn gerichtet zu sein, sprang Walker. Es ging so schnell, dass beiden nicht einmal die Möglichkeit blieb, zu zwinkern.
Walker war jetzt hinter Rush. Mit einer Hand hielt er ihn von hinten fest umklammert, mit der anderen näherte er die Zigarette dem linken Auge des jungen Mannes.
»Ah, Scheiße.«, stöhnte Rush stimmlos, während die Glut vor seiner Pupille brannte. Er wollte sich wehren, doch die kybernetischen Gliedmaßen von Walker waren unverrückbar.
»Ich weiß, dass Sie ein Agent sind.«, sagte Walker mit eiserner Stimme und ignorierte den drohenden Blick von Sethi.
Er musste dem jungen Mann noch mehr Angst machen. Wenn er wirklich zu diesen Leuten gehörte, würde er nicht so schnell nachgeben.
»Hier wird keiner Ihrer Freunde Sie finden. Wir sind hier ganz alleine und niemand hört Ihre Schreie.«
In diesem Moment durchlief das Gesicht von Rush eine Veränderung. An die Stelle des trotzigen, verängstigten Mannes trat etwas Anderes, etwas Fremdes. Es war der Gesichtsausdruck eines anderen, härter, finsterer. Panik und Angst waren wie weggewischt. Zurück blieb ein loderndes Feuer der Entschlossenheit, das Walker anfunkelte.
»Sie geben wohl nie auf, Detective.«.
Walker und Sethi tauschten einen schnellen Blick. Es war soweit. Walker ließ Rush los und stellte sich an die Seite der Soldatin. Der Lauf ihrer Waffe senkte sich.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie.
»Bravo, Detective.«, sagte Rush mit einem überraschenden Maß an Selbstsicherheit, das nicht zu seiner Situation passen wollte. Er hielt die gebrochenen Finger in die Höhe. »Ich würde ja applaudieren, aber das fällt mir dank Ihrer liebevollen Behandlung gerade etwas schwer.«
»Ich wusste, dass da jemand anderes hinter der Maske steckt.«, sagte Walker zufrieden. Die tiefe Erleichterung, sich nicht geirrt zu haben, verbarg er vor den Anwesenden. »Sie waren also von Anfang an ein Agent.«
»Natürlich war ich das.«, antwortete Rush selbstgefällig. »Und ich bin nicht der Einzige. Wir sind überall und Sie wissen nicht, wozu wir imstande sind. Glauben Sie, ein beliebiger Hacker von der Straße könnte so mit den Systemen des Ratsheeres spielen?«
Walker ging nicht auf diese offenkundige Übertreibung ein.
»Sie haben die Aufzeichnungen der Implantate des Majors manipuliert, dass es so aussieht, als hätte er die Zivilisten getötet, nicht wahr?.«
»Ja, klar.«, sagte Rush und grinste böse. »Ich hatte alle Codes und war ständig in der Nähe des Majors. Es war kinderleicht, die Aufzeichnungen des wirklichen Mörders mit denen des Majors zu verbinden. Sah ziemlich echt aus, oder?«
Walker bemerkte, wie es im Gesicht von Sethi zuckte. Er glaubte bereits, sie würde auf Rush losgehen, doch sie hielt sich meisterhaft zurück.
»Und Sie haben auch die Waffe des Majors so präpariert, dass Schmauchspuren und Kugeln der Mordwaffe glichen.«
»Ich gratuliere, Detective, Sie sind ja ein wahres Genie.«, sagte Rush. »Aber das hilft Ihnen kein bisschen. Sie haben nichts in der Hand, gar nichts.«
Walker tippte sich mit der Rechten an die Schläfe. Seine Implantate zeichneten seit Beginn des Verhörs auf.
»Seien Sie sich da nicht so sicher.«
Rush holte von irgendwo ein Lachen hervor.
»Seien Sie doch nicht so naiv, Deathwalker.«, sagte er und betonte seinen Spitznamen. »Ihnen glaubt ohnehin schon lange niemand mehr. Sie sind nur noch ein wandelnder Schatten der Vergangenheit, der vergessen hat zu sterben. Meine Leute halten es nicht einmal für notwendig, Sie aus dem Weg zu räumen.«
Rush zuckte mit den Achseln.
»Aber selbst wenn sich jemand die Aufzeichnung ansehen würde, wäre es längst zu spät. Die Medien zerreißen den Major bereits. Wenn der Rat nicht endgültig das Gesicht verlieren möchte, bleibt ihm nichts anderes übrig, als jeden Beweis für seine Unschuld zu ignorieren.«
Der scharfe Hohn in seiner Stimme war unmöglich zu überhören. Walker wusste, dass der Agent Recht hatte, ließ es sich aber nicht anmerken.
»Glauben Sie, das hier ist vorbei?«, fragte er belustigt. »Sie werden diesen Ort erst verlassen, wenn Sie uns alles erzählt haben.«
»Von mir werden Sie nichts erfahren.«, sagte Rush. »Denn ich weiß ohnehin nicht genug. Wir wären nie so weit gekommen, wenn wir nicht extrem vorsichtig wären.«
Er spuckte ein humorloses Lachen aus. Seine Augen blitzten Walker warnend an.
»Sie haben keine Ahnung, mit wem Sie sich hier anlegen wollen. Wenn Sie wissen, was gut für Sie ist, verschwinden Sie so schnell wie möglich und tauchen nie wieder auf.«
Er warf Sethi einen durchdringen Blick zu.
»Sie beide.«
»Diesen Gefallen werden wir Ihnen nicht tun.«, gab Walker zurück. »Nicht bevor Sie uns alles gesagt haben.«
»Sie verstehen nicht.«, sagte Rush. »Ich bin nur ein Werkzeug für etwas viel Größeres. Sie können die Zukunft nicht aufhalten.«
»Danke für Ihre Sorge, aber lassen Sie das ruhig unser Problem sein.«
»Es wird zu Ihrem Problem, wenn Sie nicht aufhören.«, prophezeite Rush. »Es gibt einen großen Plan. Alles ist vernetzt, verbunden. Kommt ihm jemand in die Quere, wird einfach an einer Schnur gezogen und das Problem löst sich in Luft auf.«
Rush wirkte plötzlich wie ein verrückter Jünger einer apokalyptischen Religion. Das Sozialmodul erklärte jedes seiner Worte für wahr. Zumindest glaubte er seine eigenen Worte. Walker erkannte die Anzeichen einer Gehirnwäsche, wenn er sie sah.
»Es gibt nichts, das Sie tun können.«, sagte Rush.
»Doch, der Major hat etwas getan.«, stellte Walker richtig. »Er war eine Gefahr für euch. Sonst hättet ihr wohl nie einen solchen Aufwand betrieben, um ihn auf diese Art kalt zu stellen. Ein Kopfschuss hätte es genauso gut getan.«
»Ein Kopfschuss hätte nicht diese weitreichenden Folgen gehabt.«
»Trotzdem war es nicht besonders klug, diesen Mann am Leben zu lassen.«
Rush lächelte mitleidig.
»Jemand, der Kinder ermordet ist nicht sonderlich beliebt, selbst in einem Gefängnis nicht. Ein paar wütende Zellengenossen, ein Messer, ich denke Sie wissen, wie die Geschichte von Major Devon Reeves enden wird.«
Mit einem Schlag wurde Walker bewusst, in welcher Gefahr der Major schwebte.
»Sie verdammtes Arschloch.«, fauchte Sethi. Sie wollte gerade auf Rush losgehen, da griff Walker ein und stoppte sie.
»Lassen Sie ihn ausreden.«
Rush wandte sich Sethi zu und sein Blick hatte eine beängstigende Schlichtheit. Er erinnerte Walker an eine leere Puppe, die man nur mit der Identität eines Dan Holt gefüllt hatte. Eindeutig Gehirnwäsche.
»Ja, Lieutenant, lassen Sie mich ausreden, denn der Major wird nicht der Einzige sein, der verschwindet. Ich kenne Ihre Zukunft, Lieutenant. Zuerst werden Sie unehrenhaft entlassen und dann stürzen sich die Medien auf Sie, auf Ihre Geschichte und auf Ihre Vergangenheit. Man wird Ihren Namen in einem Satz mit dem des Majors nennen und Sie solange durch den Dreck ziehen, bis keiner mehr etwas mit Ihnen zu tun haben will. Und dann, nachdem Sie es nicht länger ausgehalten haben, findet man Ihre Leiche. Selbstmord, eine schreckliche Sache, aber es wird niemanden verwundern und noch weniger interessieren.«
Walker konnte regelrecht hören, wie der Zorn in Sethi hochkochte. Er sah für einen Moment in diese leere Hülle, zu dem das Gesicht von Rush geworden war und senkte dann den Arm. Es war, als hätte er die Käfigtüre zu einer wilden Bestie geöffnet, die Rush nun mit den funkelnden Augen einer hübschen Frau angaffte. Walker wandte sich ab und nahm den Flachmann aus der Tasche, während Sethi hinter ihm zu Werke ging. Als er gerade den Schraubverschluss öffnete, hörte er den ersten Schlag.
»Wer gibt dir deine Befehle?«, wollte Sethi wissen. »Wer sind diese Leute?«
»Ich rede mit einer Toten.«, lachte Rush wie wahnsinnig. »Du bist längst tot.«
Und dann hallte ein markerschütternder Schrei des Agenten durch das leere Lager. Walker nahm einen Schluck und stellte sich vor, wie sich der Alkohol in seinem Blut ausbreitete und seine Wirkung entfaltete. Doch wie üblich war da nichts außer dem Geschmack auf seiner Zunge und dem warmen Prickeln in der Kehle. Wie gerne hätte er sich jetzt betrunken. Doch wenigstens hatte er sich nicht getäuscht. Also war auf seinen Instinkt immer noch Verlass. Er prostete sich selbst zu.
»Wenn du noch jemals an dir herumspielen willst, solltest du mir jetzt besser einen Namen nennen!«
Das Schreien von Rush war zu einem Winseln geschrumpft. Walker konnte sich vorstellen, was sie gerade mit ihm anstellte. Er verstaute den Flachmann in seinem Mantel und klopfte sich eine neue Zigarette aus der Schachtel.
»Ob Dilipa wohl deinen Namen geschrien hat, als sie von so vielen Schwänzen durchgefickt wurde, bis sie halb tot war?«, fragte Rush.
Wieder hing sein spitzer Schrei im Raum. Die kahlen, grauen Wände schienen seine Schreie mehrfach zu verstärken und zurückzuwerfen.
»Ich habe einen neuen Vorschlag für dich.«, sagte Sethi mit der verbissenen Stimme einer Amazone, die keine Gnade kannte. »Du sagst uns endlich, was du von diesen Leuten weißt und ich lasse vielleicht ein Stück von deiner Männlichkeit übrig.«
Walker drehte sich zu der Szene um und sah, dass Sethi ihm den mechanischen Arm zwischen die Beine gerammte hatte. Auch wenn die Prothese wie ein menschlicher Unterarm aussah, war sie doch weit kräftiger als ihr anderer Arm. Im Antlitz von Rush spiegelte sich der endlose Schmerz wider.
»Ich schwöre, ich werde dich …«, fauchte Sethi, wobei ihr Gesicht vom Hass regelrecht verzehrt wurde.
Rush kramte ein bösartiges Grinsen hervor, das er Sethi wie eine Granate zuwarf.
»Was, töten?«, fragte er. »Ich habe keine Angst vor dem Tod, denn ich werde weiterleben, wenn dieser Körper längst tot ist.«
Sethi wollte ihm gerade noch mehr Schmerzen zufügen, da packte Walker sie und zerrte sie von ihm weg.
»Lassen Sie mich los!«, zischte sie.
»Sie können mit ihm machen, was Sie wollen.«, sagte Walker. »Aber zuvor möchte ich ihm etwas Anreiz geben, zu antworten.«
»Wollen Sie mich weiter foltern, Detective?«, kicherte Rush.
Gleichgültigkeit und Wahnsinn wechselten sich in seinen Augen ab und wirkten furchteinflößend. Er zeigte auf seine Schläfe. »Verringerte Schmerzempfindlichkeit. Sie können mir nicht drohen. Ich werde es ertragen und wenn Sie mich dann töten, werde ich in neuer Form wiedergeboren.«
»Sie mögen das alles bis jetzt gut weggesteckt haben.«, sagte Walker und kramte in seinem Mantel. »Aber ich verspreche Ihnen, das war nur zum Aufwärmen Ihrer Schmerzrezeptoren gedacht. Sehen wir, wie gut ihre verringerte Empfindlichkeit wirklich ist.«
Walker zog einen schmalen Injektor hervor und hielt ihn Rush vor die blutende Nase.
»Wissen Sie, was das ist?«
Rush starrte erst den Injektor und dann Walker amüsiert an.
»Nein, aber Sie werden es mir gleich verraten.«
»Glas.«, sagte Walker. Die süße Erinnerung einer unvorstellbaren Klarheit durchströmte ihn. »Es ist jammerschade, dass ich es an Sie verschwenden muss, aber es wird mir in den nächsten Stunden des Verhörs gute Dienste leisten.«
Walker bemerkte zufrieden, wie die Augen von Rush ängstlich flackerten. Diesmal war es nicht gespielt. Die Ausschläge des Sozialmoduls waren eindeutig. Er näherte sich dem Agenten, der sich wehren wollte, aber durch seine Verletzungen gehandicapt war.
»Nein.«, rief er.
Der Injektor zischte und die klare Flüssigkeit entlud sich in den Blutkreislauf des jungen Mannes.
»Ein paar Minuten und alles, was sie sehen, hören und empfinden, wird für Sie ein ganz neues Niveau erreichen. Freuen Sie sich auf den feuchten Traum eines jeden Masochisten.«
»Verfickter Wichser!«, schrie Rush und bäumte sich auf.
Er wollte aufspringen und davonrennen, doch Walker hielt ihn auf dem Stuhl fixiert. Sethi kam heran und quetschte wieder seine gebrochenen Finger.
»Für wen arbeitest du?«, brüllte sie.
Das Kreischen von Rush hatte etwas Unnatürliches, Animalisches an sich, doch eine Antwort gab er nicht. Sethi schlug ihm ins Gesicht. Blut und Schweiß schossen nach allen Seiten.
»Rede endlich!«, schrie sie noch lauter. »Gib uns einen Namen!«
Immer wieder fügte Sie Rush Schmerzen zu, wobei Sie die Fragen wiederholte. Die Prozedur zog sich minutenlang hin, während die Wirkung der Droge seine Schmerzen ins Unermessliche steigerte. Irgendwann rollten die weit aufgerissenen Augen von Rush nur noch ziellos in ihren Höhlen. Das Weiß in ihnen war von roten Adern durchzogen. Sein Kreischen schnitt schmerzhaft in das Gehör von Walker, doch Sethi hörte nicht auf.
»Gib uns endlich einen Namen, du kleines Arschloch.«, forderte Sethi über seine Schreie hinweg.
So emotional aufgewühlt wirkte sie wie eine Wilde. In diesem Zustand war sie äußerst einschüchternd. Wie mühsam musste es für sie all die Jahre gewesen sein, sich ständig hinter der Maske einer besonnenen, gefühlsarmen Soldatin zu verbergen?
Rush bebte unterdessen am gesamten Leib. Blut und Speichel tropften ihm aus den Mundwinkeln. Das Lager füllte sich mit dem Gestank von Urin, Schweiß und Kot.
»Ich werde nicht aufhören, bevor ich nicht einen Namen habe.«
Und dann brach ein Wort an die Oberfläche.
»Terranis!«
Es war ein Krächzen, das aus den Tiefen seines Unterbewusstseins zu kommen schien, das verzweifelt nach einem Ausweg suchte. Im Gesicht von Rush war kein Funken Vernunft mehr geblieben. Es war nicht viel mehr als eine bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Fratze. Zusammen mit Speichel und Blut troff das Wort immer wieder über seine Lippen.
»Terranis! Terranis!«
Rush bäumte sich auf, die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Ein markerschütterndes Krächzen quälte sich aus seinem Inneren an die Oberfläche. Walker packte ihn und hielt ihn fest, doch seine Muskeln krampften. Sethi wich einen Schritt zurück, als sie sah, wie sich die Augen von Rush so weit nach oben drehten, dass nur noch das Weiße zu sehen war.
»Rush!«, rief Walker und versuchte den Mann unter Kontrolle zu bringen. »Bleiben Sie bei mir.«
Ein markerschütterndes Heulen ging von Rush aus, ehe er jäh verstummte. Es folgte ein letztes Aufbäumen seines Körpers, dann sackte er in den Armen von Walker zusammen.
»Holt?«, fragte er und sah anschließend Sethi an, die nun wieder einen Schritt näher gekommen war. Ihr Blick war finster und nur auf den Agenten gerichtet. Sie streckte eine Hand aus, um seinen Puls zu fühlen. Eine bedrückende Stille senkte sich auf die Szene herab.
»Er ist tot.«, sagte sie emotionslos. »Was ist da gerade passiert?«
Walker ließ Rush vorsichtig los, sodass er auf dem Stuhl sitzen blieb. Seine Haltung war unnatürlich verzerrt. Das pure Entsetzen hatte sich in seine Gesichtszüge eingebrannt. Es schien, als hätte er den Teufel selbst gesehen.
»Ich weiß es nicht.«, gestand Walker und musterte den Leichnam. »So eine Reaktion auf Glas habe ich noch nie erlebt. Sieht nach einem Brainflash aus.«
»Einem was?«
»Das passiert, wenn Techs an ihren Neuroimplantaten herumpfuschen und sich ständig zu starken Reizen aussetzen.«, erklärte Walker. »Irgendwann macht das Gehirn nicht mehr mit. Ihnen brennen sozusagen die Sicherungen durch. Aber so einen extremen Fall habe ich noch nie gesehen.«
»Das Warum tut auch nichts zur Sache.«, sagte sie und hatte sich wieder unter Kontrolle. Von einer Sekunde auf die andere hatte sie die Maske ein weiteres Mal übergestreift. »Er ist tot und wir haben nichts in der Hand.«
»Wir haben einen Namen.«, korrigierte Walker.
Sethi rieb sich die wunden Knöchel ihrer Hände und warf ihm einen leeren Blick zu.
»Was bedeutet das schon?«, fragte sie. »Es könnte gar nichts sein. So viel zum Wert von Folter.«
»Das werden wir später klären.«, sagte Walker, wusste aber, dass sie Recht hatte. Seine Methoden hatten nichts ergeben, alles was sie bekommen hatten, war ein mysteriöser Name, der alles bedeuten konnte – zusammen mit ein paar wirren Prophezeiungen und einem toten Agenten.
»Man wird nach ihm suchen.«, sagte Sethi.
»Dann müssen wir dafür sorgen, dass er nie gefunden wird. Sollte nicht weiter schwer sein in einer schwimmenden Stadt.«
Er war kaum überrascht von der Gnadenlosigkeit, mit der er das ausgesprochen hatte. Der Anblick des Leichnams, dessen Tod er verschuldet hatte, berührte ihn nicht im geringsten. Nur die Ernüchterung, nicht mehr erfahren zu haben, blieb.
Für einen Augenblick dachte er an sein altes Ich und wie es so vieles anders gehandhabt hätte. Doch diese Zeiten waren vorbei, der Mann von damals tot. Er bewies nur, dass er die Maschine war, zu der man ihn gemacht hatte.
»In was haben Sie mich da hineingezogen?«, fragte Sethi kopfschüttelnd.
»Sie stecken da längst mit drinnen.«, antwortete Walker. »Wir waren uns einig über die Risiken, die wir eingehen.«
»Ja, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass er draufgeht.«, zischte sie und zeigte auf den Leichnam von Rush.
»Auf jeden Fall hat sich meine Theorie bestätigt.«, fuhr Walker fort. »Mächtige Leute stecken hinter dem Attentat auf den Rat.«
Sethi ging ein paar Schritte auf und ab und vergrub die Finger in ihren langen Haaren. Sie wirkte plötzlich sehr aufgebracht.
»Was ist das alles nur für eine Scheiße?«
Walker ließ ihr ein paar Momente Zeit, die sie damit verbrachte, unruhig auf und ab zu marschieren.
»Und was jetzt?«, fragte sie. »Wenn er nicht gelogen hat, bin ich bald tot. Sie haben es gehört.«
»Nehmen Sie seine Drohungen nicht allzu ernst.«, versuchte Walker sie halbherzig zu beruhigen. »Sie haben doch gesehen, dass er verrückt ist.«
»Wie können Sie sich da so sicher sein, nach dem, was wir jetzt alles wissen?«, fragte Sethi. »Diese Leute, oder Terranis, oder wie auch immer, sind gefährlich. Das ist auch mir inzwischen klar geworden.«
Walker dachte über die Situation nach. Natürlich hatte sie Recht. Sie hatten die Wahl, entweder abzuwarten und darauf zu hoffen, dass Rush gelogen hatte oder in die Offensive zu gehen.
»Wir müssen etwas unternehmen.«, entschied er. »Wir können nicht warten, was geschieht und das Beste hoffen. Wenn es stimmt, wird der Major im Gefängnis sterben und Sie sind dann die Nächste. Jetzt wo Rush tot ist, werden diese Leute bestimmt uns als erste verdächtigen.«
»Scheiße, ich kann das alles nicht glauben.«, sagte sie und stieß ein verzweifeltes Lachen aus. »Wir sind am Arsch.«
Walker machte ein paar Schritte auf sie zu und brachte sie zum Stehen.
»Ich verspreche Ihnen, dass Sie nicht so schnell sterben werden.«
»Wie können Sie mir das versprechen?«, fragte sie wütend. »Ich bin kein kleines Mädchen mehr, das auf leere Versprechungen hereinfällt.«
»Weil wir dafür sorgen werden, dass diese Leute uns nicht finden.«, sagte er mit einer Entschlossenheit, die ihn selbst überraschte.
Sie fuhr sich noch einmal mit beiden Händen durch das pechschwarze, schulterlange Haar.
»Und was ist mit dem Major?«
»Das gilt auch für ihn.«
Sethi sah ihn misstrauisch an, doch dann lockerten sich ihre Züge, als ihr bewusst wurde, worauf Walker hinaus wollte.
»Wollen Sie ihn etwa aus dem Gefängnis befreien?«, fragte sie. »Denn das halte ich für eine ausgesprochen dumme Idee.«
»Sie haben doch erwähnt, dass der Major in den nächsten Tagen vom Sanctum in das Gefängnis von City One verlegt wird.«
Sethi nickte.
»Ja, bereits morgen.« Dann dämmerte es ihr. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Damit kommen wir niemals durch.«
»Wenn wir es richtig anstellen, vielleicht ja doch.«, entgegnete Walker. »Wir brauchen alle Informationen über die Verlegung. Kriegen Sie das hin?«
»Ich weiß nicht, wahrscheinlich.«, sagte Sethi noch immer fassungslos. »Aber selbst wenn wir ihn befreien, was dann?«
»Zuerst einmal verlassen wir diesen schwimmenden Überwachungsstaat. Danach tauchen wir unter und stellen uns neu auf.«
Walker sah das Zögern im Gesicht des Lieutenants und kam auf Armlänge heran. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und sah ihr tief in die Augen.
»Ich weiß, die Lage ist beschissen. Aber wenn wir jetzt nicht sofort handeln, sind wir vermutlich bald alle tot. Das Verschwinden von Holt wird diesen Leuten nicht entgehen. Vertrauen Sie mir, Lieutenant.«
Sethi wandte sich ab und ging ein paar Schritte auf und ab.
»Wie konnte das alles nur so weit kommen?«, fragte sie nach einer Weile und in ihrer Stimme lag Bedauern. »Ich habe alles dafür getan, um als Soldatin ernst genommen zu werden. Ich habe immer alle Regeln und Vorschriften befolgt, damit sie mich irgendwann zum Ghost machen. Und jetzt soll ich selbst zu einer Verbrecherin, zu einer Gesuchten werden?«
»Die Alternative ist womöglich der Tod.«, sagte Walker. »Wollen Sie dieses Risiko eingehen?«
Sethi drehte sich um, und das Feuer in ihren Augen schien erloschen zu sein. Sie sah müde aus, wie von einem langen Kampf, den sie gerade erst verloren hatte. Die Maske war endgültig zerbrochen.
»Vielleicht ist es besser, ich sterbe jetzt als Soldatin als später in irgendeinem dreckigen Versteck als Verräterin.«
Walker sah sie mit starrem Blick an. Er wählte seine Worte sorgfältig, ehe er sie an Sethi richtete.
»Wir werden uns nicht verstecken, denn wir sind die Einzigen, die von dieser Verschwörung gegen den Rat wissen. Terranis hat uns und der Welt den Krieg erklärt, also werden wir den Krieg zu ihnen tragen. Aber zuerst müssen wir verhindern, dass der Major von irgendwelchen Gefangenen hinterrücks ermordet wird. Und Sie werden mich dabei unterstützen, denn Sie schulden dem Mann noch etwas.«
Sethi sah ihn mit einem undefinierbaren Blick an, schwieg aber.
»Also, wie entscheiden Sie sich, Lieutenant? Helfen Sie mir und unternehmen etwas oder geben Sie auf?«

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